Aus dem verzweifelten Festhalten entwickelt sich ein letzter Liebesbeweis
Wen trifft die Alzheimer-Erkrankung von Erika (Gisela Schneeberger) eigentlich mehr, wer leidet stärker darunter, dass sich ihr Leben aufzulösen droht? Sie oder ihr Ehemann Hartmut (Erwin Steinhauer), der alles versucht, um Erikas Lebensgeister und die Erinnerung an ihre besten gemeinsamen Jahre wach zu halten? „Sie müssen sich der Realität stellen“, solche Sätze aus professionellem Munde sind ihm ein Gräuel. Aber auch Sohn Thomas (Simon Schwarz) kommt mit dieser Vernunftkiste und würde die Mutter am liebsten gleich morgen in ein Heim für Alzheimerpatienten geben. Hartmut weiß, dass er die Krankheit nicht stoppen kann, aber er hat Hoffnung, dass er für einige Momente sich und seine Frau noch einmal gemeinsam glücklich sehen wird. Dass Erika auf die alten Popsongs aus den 1970er Jahren mit einem Freudestrahlen reagiert, dass sie plötzlich tanzt wie damals, das bringt ihn auf eine Idee: „Ich dreh die Zeit zurück, wir machen alles auf alt.“ In seiner unkonventionellen Enkelin Helena (Ella Rumpf) findet er eine Verbündete, die zupacken kann – und so präsentiert sich das Haus des Ehepaars bald in schrägem Retro-Look mit Blümchentapete und poppigem Seventies-Mobiliar. Als Hartmut dann auch noch die Hits von damals auflegt, wirkt Erika tatsächlich wie ausgewechselt. Sie strahlt zufrieden und liegt ihrem Hartmut hingebungsvoll im Arm, sie erinnert sich aber auch an Dinge, die Quelle weiteren Schmerzes sein könnten.
Die Alzheimer-Krankheit wird nicht zur Gaudi benutzt, sondern ernst genommen
Wie ein Ehemann mit dem Mut der Verzweiflung gegen das Schreckgespenst Alzheimer ankämpft, davon erzählt die deutsch-österreichische Tragikomödie „Für dich dreh ich die Zeit zurück“. Das Krankheitsbild wird dabei sehr viel ernster genommen, als es dem Laien erscheinen mag und es die „verrückte“ Lösung, die die Geschichte anbietet, erwarten lässt. So resultiert die Unruhe der Kranken ja ein Stück weit auch aus der Wahrnehmung des eigenen beängstigenden Zustands. Für Beruhigung zu sorgen ist auf jeden Fall eine gute Strategie, die den Krankheitsverlauf nicht stoppen, aber die Situation insgesamt verbessern wird. Als Ordnung zu schaffen im Kopf beschreibt es der Ehemann, bevor die Kranken in der Phase der „gnädigen Schwelle“ von selbst ruhig werden, „weil sie nicht mehr bemerken, dass sie alles vergessen“. Das „Frieden finden“ betrifft den Mann genauso wie die Frau; er muss lernen, sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden. Letztlich liegt der Ehemann damit gar nicht so weit von dem entfernt, was die Ärztin im Film medizinisch rät, auch wenn ihr Hinweis auf „die ungelösten Probleme eines Lebens“, auf alte belastende Konflikte, noch in eine andere Richtung zielt und dem Ehemann eine weitere Bewährungsprobe abverlangen wird.
Die tragische Interaktion gewinnt durch die spielerische Phantasie an Tiefe
Der Fernsehfilm von Nils Willbrandt („Mörderisches Tal – Pregau“) nach dem Buch von Uli Brée („Vorstadtweiber“) und Klaus Pieber („Paul Kemp“) begegnet der Krankheit mit ihren für den nicht Betroffenen absurd anmutenden Episoden mit einer nicht minder absurden fiktionalen Lösung, die sich dann allerdings als ausgesprochen genial entpuppt. Denn Brée & Co dringen nicht nur multiperspektivisch und tiefgründig in die tragische Alzheimer-Kommunikation ein, sondern sie nutzen gleichsam ein spielerisch-phantasievolles Moment – und das eben nicht nur im Film, sondern auch in Hinblick auf den Zuschauer. Dem vermittelt sich damit Vieles von den Dilemmata, die diese Krankheit mit sich bringt. Dies alles wird aber nicht nur erzählt als typisch dramatischer Diskurs mit Expertenstimmen, rationalem Familienstreit und dem steten, zu erwartenden Niedergang, sondern als eine anschauliche Tragikomödie, der die tiefe Verzweiflung des Ehepartners zugrunde liegt. Auch wird „die Patientin“ nicht vorgeführt, sondern als ein Mensch gezeigt, der in seinem eigenen, von der Welt abgeschotteten System lebt. Gefühle hat in erster Linie der Ehemann. Die irrwitzigen Äußerungen der Kranken sind neben den unbeabsichtigt boshaften („Ich mag Sie nicht, Sie sind alt und schrumpelig“), wie man sie aus anderen Alzheimer-Filmen kennt, immer wieder auch von einer geradezu poetischen Größe („Neulich hat man mir die ganze Woche gestohlen und keiner hat mir was gesagt“). Hinzu kommt die Beiläufigkeit, mit der Gisela Schneeberger Sätze wie „Ich muss jetzt still werden, gute Nacht, der Tag ist schon leer“ spricht, während der Fokus der augenblicklichen Handlung auf die Aktionen Erwin Steinhauers gelegt wird.
Zwischen Retro-Szenario, der Sprache des Gefühls & einem Wow-Moment
Regisseur Nils Willbrandt und die Gewerke, allen voran das Szenenbild (Verena Wagner), das Kostüm (Caterina Czepek), aber auch die Kamera von Peter Nix und der Schnitt von Olivia Retzer und Philipp Brozsek haben die Geschichte kongenial umgesetzt. Ohne ins nur Nostalgische zu verfallen, um aber doch die Gefühle ausreichend transparent zu machen, wird dem Retro-Szenario im Rahmen der Geschichte der angemessene Platz eingeräumt. „Die Sprache des Gefühls sprechen, nicht die des Verstandes“, hat die männliche Hauptfigur in einem klugen Buch über Alzheimer gelesen, „wenn der Verstand die Sprache verliert, dann spricht man mit dem Herzen.“ Gerade auch auf dieser klug emotionalen Ebene hat der Film seine besonderen Stärken – und die bringen Willbrandt und die Autoren zur Entfaltung, weil sie sich Zeit nehmen für die Figuren, für die Zwischentöne ihrer Beziehungen, weil sie die Handlung nicht mit überflüssigen Subplots oder Nebenfiguren verwässern, weil die Haupt-Location, das freistehende Einfamilienhaus vor den Toren Wiens, visuell vorzüglich passt zur dezenten Stilisierung, die den ganzen Film auszeichnet. Die Besetzung ist bis in die Nebenrollen vorzüglich, die Tonlagen der Schauspieler stecken voller feiner Nuancen (das „Ungefähre“ von Ella Rumpfs Helena oder das klare Wertebewusstsein Gatten, das sich in seiner Art zu reden widerspiegelt) sind präzise auf ihre Rollen abgestimmt und die Gesamtanmutung ihrer Interaktionen wirkt wie aus einem Guss. Und bemüht wird hier keine dauerironische Komödiensprache, sondern gepflegt wird ein zwar zugespitzter, aber nahezu realistischer Umgangston. Und das Siebziger-Straßenfest, das sich im Nachhinein als Traum des überforderten Gatten entpuppt, ist der vielleicht optisch reizvollste Glücksmoment, den man in den letzten Monaten in einem deutschsprachigen Unterhaltungsfilm miterleben durfte.
Soundtrack:
The Real Thing („You To Me Are Everything“), Boney M („Daddy Cool“), Bob Dylan („Knockin‘ On Heaven’s Door“), Neil Young („Heart Of Gold“), Simon & Garfunkel („Scarborough Fair“), Abba („Dancing Queen„), Queen („Don’t Stop Me Now„), Pink Floyd („Wish You Were Here„), Robertha Flack („Killing Me Softly“), Fleetwood Mac („Black Magic Woman„), Jimi Hendrix („All Along The Watchtower„), Dschinghis Khan („Dschinghis Khan“), Elton John („Your Song“), Hildegard Knef („Halt mich fest„), Bee Gees („How Deep Is Your Love“), Bruce Springsteen („Born To Run“); The Cinematic Orchestra („To Build A Home„)
Die Österreicher haben’s drauf – nur, was zeichnet den „Austria Touch“ aus?
„Für dich dreh ich die Welt zurück“ ist der bislang beste ARD-Freitagsfilm in diesem Jahr. Das hat neben der Summe der stimmigen Details damit zu tun, dass Unterhaltung hier nicht Selbstzweck bleibt. Umgekehrt lässt sich das Erzählte aber auch nicht wohlfeil instrumentalisieren als filmischer Selbsthilfekurs für Alzheimer-Angehörige, noch taugt es als Trauerkloß-Veranstaltung für Nichtbetroffene, sondern seine Macher pendeln die Geschichte zwischen gesellschaftlich relevant und individuell tragisch aus. Dass dies nach dem Überraschungserfolg „Mein Schwiegervater, der Stinkstiefel“ mal wieder einem österreichischen Film gelingt, ist kein Zufall. „Vorstadtweiber“, „Braunschlag“, die in Wien spielende BR-Kooperation „Seit du da bist“, einige Kronthaler-Dramödien, ja selbst einige MDR/ORF-Koproduktionen, zuletzt „Familie mit Hindernissen“, besitzen „das gewisse Etwas“, das man bei deutschen Komödien nur selten findet. In einem Satz oder gar einem Wort („frecher“, „lässiger“, „schwarzhumoriger“, „böser“) erklären lässt sich das nicht, zumal in den genannten Filmen ja auch entscheidende Positionen von deutschen Kreativen eingenommen werden. Kritiker und Genre-Analytiker sollten einmal genauer diesen „Austria Touch“ unter die Lupe nehmen. Bis dahin, ein Hoch auf „Für dich dreh ich die Zeit zurück“, diesen köstlichen Film, der doch so viel mehr als nur eine Zeitreise ist. Der so viel gute Gefühle macht & der selbst einem Kritiker eine Träne in den Augenwinkel zaubert.