Ein Mädchen ist vor einem Monat verschwunden. Jetzt wurde ihre Leiche gefunden, in einem Weiher, etwas außerhalb von München. Die 15-Jährige muss in der Tatnacht ins Auto ihres Mörders gestiegen sein. Es gibt nur wenige Augenzeugen. Ein Lehrer scheint verdächtig – aber mehr, als dass er während der Befragungen stark transpiriert, haben Leitmayr und Batic gegen ihn nicht in der Hand. Hat da vielleicht der neue Kollege, Jungspund Gisbert, ein wenig auf die Ermittlungsarbeit der beiden Silberlocken abgefärbt? Der nämlich hat auch ohne Fakten und Beweise stets eine griffige Hypothese parat. Mit Leidenschaft, aber auch mit kriminalistischen Gemeinplätzen macht sich die Nervensäge an die Arbeit. Aus unverständlichen Geräuschen entwickelt der Technikfreak ein Entführungsszenario zwischen Phantasie und Wahnsinn. Und die Kameraüberwachung zelebriert er wie ein religiöses Ritual. Batic schmunzelt wohlwollend dazu, und Leitmayr ist nur noch genervt. „Lasst mich doch einmal was richtig machen“, winselt Gisbert, als die beiden ihm beim Bier die Rote Karte zeigen. Ausgerechnet Leitmayr lässt sich erweichen: „Dann mach einmal was richtig!“
„Der tiefe Schlaf“ beginnt ungewöhnlich für einen „Tatort“. Die Kamera zeigt zunächst nur Situationen, die durch Zeugen abgesichert sind. Nachdem sich das Opfer in der Mordnacht zu Fuß auf den Weg nach Hause gemacht hat, sieht man die Kommissare, wie sie einen Monat später am Tatort eintreffen und mit einer entstellten Wasserleiche und einem unsensiblen Kollegen vom Dauerdienst konfrontiert werden. In der Folgezeit wird immer wieder – bei Verhören oder Tathergangshypothesen – in jene verhängnisvolle Nacht zurückgeblendet. Ungewöhnlich geht es weiter. Der neue Kollege – „Sie werden ihn lieben“, prophezeit der Vorgesetzte – ist zwanghaft übermotiviert; er ist ein Hemmschuh für die Arbeit der erfahrenen Kollegen, ihm fehlt es an allem, was einen guten Ermittler ausmacht – vor allem Fingerspitzengefühl. Will er alles nur besonders gut machen? Weshalb hört er nicht auf die Profis und prescht immer wieder vor und macht sich lächerlich? Was treibt ihn an? Nach einer Stunde erst wird man erfahren, weshalb dieser junge Mann sich so in den Fall verbissen hat, dass er nicht mehr lebend aus ihm herauskommen wird. Dennoch erdreistet er sich zu sagen: „Ich habe einen sehr, sehr guten Instinkt, und ich habe am Ende immer Recht.“
Jener Gisbert hält die Kollegen in Atem und den Zuschauer bei Laune. Der Nachwuchskommissar, der sich vermeintlich als Vollidiot gebiert, versetzt durch seinen Aktionismus Leitmayr und Batic, nachdem er sie mit seinen verrückten Vermutungen durch die Gegend gescheucht hat, in eine trotzige (Alters-)Starre. Das nutzen Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec zu kleinen amüsanten Zwischenspielen. Mehrfach finden sich ihre Hauptkommissare zum Meinungsaustausch auf der Toilette ein, gelegentlich am Rande des Nervenzusammenbruchs, oder sie sinnieren darüber, wie sie den linkischen Preußen mit dem krankhaften Frischluftbedürfnis loswerden können. Im Verlauf der Geschichte werden Franz Leitmayr und Ivo Batic dem einsamen jungen Mann, mit dem keiner etwas zu tun haben will, zumindest in ihren Ermittlungsmethoden immer ähnlicher. „Er hat Husten – wahrscheinlich ist er Raucher. Er hat einen Tic“, zu diesem Ergebnis kam Gisbert durch die AB-Geräuschanalyse: seine erste Tat! Ein kaum erkennbares Hüsteln zieht sich in einer Dauerschleife durch den Film. Auch Leitmayr verzichtet im Schlussdrittel aufs Ermitteln, lieber verlässt er sich auf seinen Schmerz, seine Schuldgefühle und seine Intuition. „Er ist weggelaufen – er war’s.“ Mit dieser Erkenntnis schließt er den Doppelmordfall ab.
Alexander Adolph über „Der tiefe Schlaf“:
„Im Tatort: ‚Der tiefe Schlaf‘ geht es um den Tod. Darum, dass jemand stirbt und was das mit den Freunden, Verwandten, Kollegen macht, die am Leben bleiben. Und mit den Polizisten, die jene Hinterbliebenen treffen. … Je öfter ich Kommissaren vom Morddezernat oder dem KDD begegnet bin, umso deutlicher schien mir, dass sich ihr Alltag weniger um den Täter dreht, als um die Opfer und deren Angehörige. Davon wollte ich gern erzählen.“
Dem Autor-Regisseur Alexander Adolph ist ein intelligenter „Tatort“ gelungen, der mit reduzierter Handlung, mit Poesie und (in der ersten Stunde) mit feinsinnigem Witz zu punkten weiß, bevor er die Helden und den Zuschauer zwischenzeitlich in eine Schockstarre versetzt. „Der tiefe Schlaf“ ändert in den letzten 30 Minuten die Tonlage – und erfindet sich noch einmal neu. Alles auf Anfang. Damit einher geht die mögliche Revision des bisher Erzählten. Hat dieser „Verrückte“ vielleicht gar nicht so Unrecht gehabt? Hat er mit seinen seltsamen Methoden der Einfühlung vielleicht Dinge erkannt, die den routinierten Ermittlern verborgen bleiben müssen? Diese Einfühlungsmethoden zu bewerten – darum kann es nicht gehen bei diesem „Tatort“. Schon eher darum, dass eine Charakterfigur wie jener Gisbert wunderbar die Konventionen des klassischen Ermittlerkrimis aufbricht und ein Schauspieler wie Fabian Hinrichs den alten Hasen mal so richtig Dampf machen kann. Nemec und Wachtveitl sah man jedenfalls lange nicht mehr so trocken humorig und spielfreudig. (Text-Stand: 30.11.2012)