Die Altenpflegerin Sabrina Dobisch möchte endlich einmal Dank und Anerkennung ernten für das, was sie tut. Mit Hilfe einer Katze verursacht sie vorsätzlich einen schweren Unfall, der sie zur Heldin für einen Tag werden lässt. Sie rettet einer Autofahrerin das Leben und hält einem jungen Mann beim Sterben die Hand. „Sie will mich töten“, habe der überfahrene Fußgänger zu ihr noch sagen können. Mit dieser Aussage belastet sie Doris Ackermann, eine hoch verschuldete Immobilienmaklerin, die darüber hinaus auch noch eine Waffe mit sich führt. Dass der Tote der Sohn des Chefs ihrer Hausbank ist, macht sich auch nicht gut. Dennoch bleibt Kommissar Borowski skeptisch. Ihm ist das ganze Unfall-Szenario zu unwahrscheinlich für einen geplanten Mord. Derweil genießt die Altenpflegerin die Aufmerksamkeit, die ihr von der Öffentlichkeit entgegengebracht wird.
Sabrina Dobisch inszeniert sich als Retterin, sie spielt eine Rolle in ihrer selbst inszenierten Allmachtphantasie. Sie wechselt ihre Stimmungen so wie sie ständig ihr Outfit verändert. Mal ist sie warmherzig und voller Empathie, mal eiskalt und skrupellos. Sie schenkt Leben, sie nimmt Leben, sie tut, was sie tut, sie will nichts Schlimmes, aber sie lässt es geschehen. „Borowski und der Engel“ ist weniger Ermittlungskrimi als ein spannendes Porträt einer Borderline-Persönlichkeit und ein raffinierter Diskurs über das Böse und wie es in die Welt kommt. Diese Frau ist eine großartige (Lügen-)Geschichtenerzählerin. Diese Gemeinsamkeit teilt sie mit ihrem Erfinder, dem Autor Sascha Arango („Blond – Eva Blond!). Ihre Phantasie, ihr pathologisches Wunschdenken, ist die Basis für eine immer irrwitzigere Story mit einer unentdeckten Leiche, einem Selbstmord mit Mehrwert und einem sexy-Psycho, der nicht psychologisiert wird. Auch der Fernsehkrimi mit seinen Mythen bekommt einige Schrammen ab: Ein Mord bleibt unentdeckt; dafür muss ein Selbstmord für Gerechtigkeit sorgen.
Ausgerechnet im Jubiläumsfall stößt „der große Meister“ an seine Grenzen als Ermittler. Zehn Jahre ist Borowski nun schon im Namen der Aufklärung unterwegs – vornehmlich im Außendienst: Das Kieler Kommissariat war nur selten Ort für überführende Verhöre (die intensive Entlarvungsszene findet in Fall 22 in einem Park statt, ein wunderbares, verbales Katz-und-Maus-Spiel Marke Borowski), eher bietet es Raum für die Beamtenseele. Für ein komisches Intermezzo sorgt dieses Mal der gelangweilte Kripochef Schladitz. Der schießt sich mal eben in den Fuß und killt dabei beinahe noch den Rechercheteufel Sarah Brandt.
Grimme-Preisträger Sascha Arango setzt mit „Borowski und der Engel“ den Weg konsequent fort, den er mit den offen geführten Ausnahmekrimis „Borowski und der stille Gast“ sowie „Borowski und die Frau am Fenster“ eingeschlagen hat. Dieser „Tatort“ aus Kiel wächst über das Genre hinaus – auch deshalb, weil Regisseur Andreas Kleinert deutlich auf die Film- und Kinogeschichte als Referenzrahmen baut und er die Altenpflegerin – perfekt besetzt mit Lavinia Wilson – aus der Verliererrolle entlässt, er neben der kranken auch ihre schöne Seite entdeckt und sie zu einer Ikone postmoderner Weiblichkeit stilisiert. Der Film bekommt auf diese Weise etwas von einer märchenhaften Wunschprojektion. Vor ihrem großen Auftritt als helfender Engel noch schnell ein Gang zum Friseur. Sie (nicht nur ihre Erfinder) orientiert sich in Garderobe & Styling an den Schönen der Filmgeschichte. Zeichnungen von Brigitte Bardot, Sophia Loren oder Marlene Dietrich hängen in Schminktischnähe. In konkreten Szenen assoziiert man aber andere Größen des europäischen Kinos: ein Hauch von Jane Birkin, Catherine Deneuve („Ekel“), Chabrol-Muse Stéphane Audran, Delphine Seyrig oder Tilda Swinton weht durch die sommerlichen Szenerien. Mit der schrägen Psycho-Krimi-Story schließt sich der Kreis zum Sixties-Kino in Richtung Truffaut („Die Braut trug schwarz“).
„Borowski und der Engel“ besitzt etwas, was bei Reihen-Krimis höchst selten ist: Momente, die man nicht so schnell vergisst. Da ist Lavinia Wilson als Bild gewordene Psychopathin. Trage ich heute Hut oder Sonnenbrille, getupft oder uni? Bildschirmfüllend darf sie gnadenlos begnadet in die Kamera lügen. Die Trauerfeier, der Leichenschmaus, die Überführungsszene im Park – das alles atmet den diskreten Charme der Bourgeoisie. Und dieser Film erzählt in Bildern, besitzt Rhythmus, setzt auf Kino-Anmutung. Die Sequenzen sind stets punktgenau montiert. Räume und Charaktere werden mit wenigen Schnitten stimmungsvoll vereint. Diese Ästhetik entspricht ganz der Konzentration der Story auf die Episodenhauptrolle. Arango will ein Beispiel geben. Warum morden andere – und warum morden wir nicht? Was passiert, wenn ein liebenswerter Borderliner die ganz normale Alltagslogik auf den Kopf stellt? Dieser Plot ist nichts für Erbsen zählende Realitätsbuchhalter, die den gesunden Menschenverstand ermitteln sehen wollen. Dieser Fall ist eine Versuchsanordnung, die sich nicht mit Psychologie und Wahrscheinlichkeit erklären lässt. Der Zufall – möglicherweise – spielt eine entscheidende Rolle. Selten war ein Krimi im Fernsehen eleganter, bizarrer, stilsicherer, verspielter…