Das Szenario, das Lannert und Bootz bei einem nächtlichen Überfall auf einen Supermarkt vorfinden, ist bedrohlich und unübersichtlich: Schüsse fallen, ein Mann hat eine Geisel in seiner Gewalt und droht, sie zu erschießen, Menschen suchen in Panik nach Deckung, Bootz reißt eine Kundin zu Boden – dann schießt Lannert und trifft den Geiselnehmer tödlich. Ein finaler Rettungsschuss oder unadäquates Verhalten? Die Anhörung wegen Verhältnismäßigkeit dieser Handlung sieht Lannert als Routineangelegenheit – war der Täter doch gefährlich und unberechenbar. Doch die Mutter des Toten hat die bekannten und gefürchteten Anwälte Christian (Caroline Ebner) und Sabine Pflüger (Michael Rotschopf) engagiert, die Lannert wegen fahrlässiger Tötung angeklagt sehen wollen. Bootz ist entsetzt, wie dieser angegangen wird, und entlastet seinen Kollegen in der Befragung, obwohl er die entscheidenden Sekunden des Schusses nicht sehen konnte. Und ausgerechnet die Zeugin, die Bootz im Supermarkt per Hechtsprung vor Schaden bewahrt hat, belastet Kommissar Lannert. Wenig später ist sie tot.
Einfach mal alles auf den Kopf stellen, sagte sich das „Tatort“-erprobte Drehbuch-Duo Sven Poser und Sönke Lars Neuwöhner. Und so ist Rollentausch angesagt im Schwabenländle. Nicht die Kommissare vernehmen böse Buben, nicht die Kommissare versuchen der Wahrheit auf die Spur zu kommen – die Cops stehen selbst im Fokus, werden von Anwälten in die Zange genommen und nehmen es nicht so genau mit der Wahrheit. Und so müssen sie sich moralisch und juristisch rechtfertigen: Lannert für den Einsatz der Schusswaffe und die Tötung eines Räubers und Geiselnehmers, Bootz für den Versuch, seinen Kollegen zu entlasten, indem er angibt, etwas gesehen zu haben, was er gar nicht sehen konnte. Aus diesem Dilemma, in dem die beiden Ermittler stecken, bezieht der Krimi seinen besonderen Reiz und seine ungewöhnliche Perspektive. Die Anwälte des Getöteten haben – zumindest im Fall Bootz – ja durchaus Recht, doch der Zuschauer sieht sich dennoch auf dessen Seite.
Till Endemann hat diese spannungsvolle Konfrontation zwischen Kommissaren und Anwälten in „Eine Frage des Gewissens“, seinem zweiten „Tatort“, in Szene gesetzt. Geschickt wird die private Situation von Bootz, der sich nach der Scheidung augenscheinlich auf Sinkflug befindet, und die berufliche Lage nach seiner Aussage und seinen Ermittlungen auf eigene Faust miteinander verknüpft. Stellenweise ist das zwar ausgesprochen gefühlig geraten, doch die Stuttgarter Cops setzen ja gern (und zumeist recht wirkungsvoll) auf eine Mischung aus Emotion und Eruption. Eruptives gibt es in Form von Action. Allein schon der Einstieg ist von enormer Intensität und Dichte – und zieht den Zuschauer sofort hinein in die Geschichte. Danach dominieren die ruhigeren Momente. Die Angeklagtenbank bei den Befragungen durch das Anwalts-Ehepaar Pflüger ist ein zentraler, stets wiederkehrender Ort, der Gelegenheit bietet, mehr über die beiden Stuttgarter Ermittler zu erfahren als man bisher kannte.
Wie weit darf Loyalität zwischen Freunden und Kollegen reichen? Wie geht man mit einem moralischen Fehler um? Wie belastbar ist Freundschaft? Der „Tatort – Eine Frage des Gewissens“ geht über eine spannende Krimi-Story hinaus, stellt diese tiefergehenden Fragen. Vor allem für Felix Klare ist der 15. Fall als „Tatort“-Kommissar eine schauspielerische Herausforderung: Sein Bootz ist privat angeschlagen, beruflich unter Beschuss, moralisch im Zwiespalt – eine große Last für eine Rolle. Klare meistert dies überzeugend. Als – wie immer gelungenes – Bindeglied zwischen den beiden Figuren Bootz und Lannert fungiert Staatsanwältin Alvarez – eine kleine, feine Rolle für Carolina Vera. „Ziehen wir unseren Helden ihre weißen Westen doch einmal aus“, so formuliert Autor Sönke Lars Neuwöhner den Ausgangsgedanken für die Geschichte. Die Idee ist zwar auch innerhalb der „Tatort“-Reihe nicht neu, aber wie sie hier umgesetzt wird – die Kommissare nicht als verfolgte Unschuld, sondern mit dunklem Fleck – ist gelungen und sehenswert. (Text-Stand: 28.10.2014)