Eine folgenschwere Nacht. Nach einem erotischen Schäferstündchen zwischen Richard Brock und seiner verheirateten Nachbarin, der Uni-Professorin Paula Moser, begegnet ihr im Treppenhaus ein Unbekannter. Noch bevor sie etwas Genaueres sehen kann, verschwindet er in der Wohnung von Lukas Gabner, Professor der Rechtsgeschichte. Sie ahnt, dass da jemand hinter dem Türspion lauert. Wenig später steht die Wohnung Gabners in Flammen. Der Professor ist tot – und er war es auch schon vor Ausbruch des Feuers. Brock, Moser und die anderen Bewohner des Hauses können in Sicherheit gebracht werden. Petra Brock, die Tochter des gelegentlich für die Polizei arbeitenden Psychologen und Verhörspezialisten, übernimmt den Fall. Brock wird derweil von einem seltsamen Zeitgenossen heimgesucht, der sich mit dem Wissen um Brocks Affäre mit der Frau eines guten Bekannten seine Therapierung erpresst. Jener Gerald Pliem, „Arzt“ ohne Approbation, streift häufig ziellos durch Wien – und muss dabei auf Brocks Haus aufmerksam geworden sein. Er weiß, was dort hinter verschlossenen Türen vor sich geht – und er hat auch den Toten gekannt.
Reduktion der Handlung, Entschleunigung des szenisch Dargestellten & Konzentration auf den psychophysischen Ausdruck der Hauptprotagonisten sind die ästhetischen Wesensmerkmale auch der vierten Episode aus der ORF/ZDF-Reihe „Spuren des Bösen“. Mit seiner geradezu existentialistischen Methode, einem Realismus, der die Welt beobachtet, betont „Schande“ das Alleinstellungsmerkmal dieser Thriller-Dramen auf besonders radikale Art und Weise. Der Film, der vom gleichen Kreativ-Team wie seine Vorgänger gemacht wurde, setzt auf einen minutiösen (Erzähl-)Stil, der sich von außen der Psyche seiner Charaktere nähert, ohne je äußerlich oder gar oberflächlich zu sein. Der Blick in die Seele wird nur angedeutet; der Zuschauer muss hingucken, sich einlassen auf das Distanz verströmende, fast abstrakte Spiel von Heino Ferch und Fritz Karl und sich einfühlen in Situationen, die – ähnlich wie die französischen Film-Noir-Krimis von Melville, Dassin oder Tavernier – nie 1:1 der banalen Wirklichkeit abgelauscht sind. Wer auf äußere Handlung abfährt, kann sich von diesen Austro-Krimis durchaus irritiert fühlen. Wer mit der Philosophie von Brocks Psychologie des Vor- und Unterbewussten etwas anfangen kann („Wir alle sind Eisberge, die im Wasser treiben“) – der wird in dieser Reihe auf Erkenntnisse stoßen und Sinnzusammenhänge sehen, die spannender sind als jeder Whodunit. Wieder sind es „die Monster in eisigen Tiefen“, von denen Grimme-Preisträger Martin Ambrosch in „Schande“ erzählt. Hitchcock hätte seine helle Freude an dieser Geschichte, in der zwei erwachsene Männer noch bei ihren Muttis wohnen.
Heino Ferch besticht weiterhin in der Rolle des Mannes, der den Menschen aus dem Weg geht, ein einsamer Wolf, der seine Ruhe haben möchte, der andererseits aber auch von einer gewissen Neugier erfüllt ist und sich so – anders als in den bisherigen Fällen, in denen er die Lizenz zum Ermitteln oder zumindest zum „Helfen“ hatte – selbst in Gefahr bringt. Eine Stunde lang beginnt es langsam in eisiger Tiefe zu brodeln. Dann urplötzlich brechen die Monster aus – und der Held verliert mehr und mehr die Kontrolle über die Situation und schließlich auch über seine Sinne. Meisterregisseur Andreas Prochaska verwandelt die Bild- und Tonebene minutenlang in einen psychedelischen Alptraum. Kranke Perspektiven, innere Monologe, Sprache auf Laute reduziert. Der Zuschauer wird Zeuge der verzerrten Wahrnehmung von Brock. Es ist ein qualvoller Höllenritt, der David Slamas Prinzip der visuellen Engführung zum Höhepunkt treibt. Schon zuvor finden sich in „Schande“ nur wenige Totalen. Statt dessen: Körper in Naheinstellungen, angeschnittene Gesichter, und die meisten Schauplätze sind Räume, in denen sich Menschen breit machen. Dunkelheit und Nebel tragen das Übrige dazu bei, dass dieses Wien eine Stadt der Details ist, die vom Menschen bestimmt wird und nicht umgekehrt. Die Hauptakteure sind Protagonisten, die um sich selbst kreisen. Die Seele bestimmt die physische Wirklichkeit – auch darin ist „Spuren des Bösen“ konsequenter erzählt als jede andere deutsch(sprachig)e Krimi-Reihe. Thematisch – das sei noch angemerkt – geht es in „Schande“ um die Liebe – und im Reich der Monster bleibt auch der nichts anderes übrig, als eine Spur krank zu sein. (Text-Stand: 17.12.2014)