„Der Kriminalfall dient eher dazu, die Marotten und Eigenheiten unserer Figuren ins rechte Licht zu rücken“, schreibt das Autorenpaar Stefan Cantz und Jan Hinter über seinen zehnten „Tatort“ aus Münster; und zum Glück liegen sie damit diesmal daneben. Genau dies war ja oft die Schwäche ihrer Krimis: Die Fälle verkamen zum bloßen Vorwand für die pointenreichen Dialogduelle zwischen dem brummigen Hauptkommissar Thiel (Prahl) und dem blasierten Gerichtsmediziner Boerne (Liefers). Komisch war das immer; aber oft eben kaum Krimi.
„Erkläre Chimäre“ hingegen ist – dem verspielten Titel zum Trotz – die nahezu perfekte Kombination beider Ebenen: Cantz und Hinter, deren Zusammenarbeit 2001 bei einem „Tatort“ aus Köln begonnen hat, bevor sie kurz drauf Thiel und Boerne erfanden, haben sich mit ihrem 2015er-Drehbuch für das konträre Duo aus Münster beinahe selbst übertroffen. Die Geschichte ist originell und im Grunde absurd, aber trotzdem noch realistisch genug, um möglich zu sein. Die größere Qualität liegt jedoch in der gelungenen Verschmelzung von Krimi und Comedy. Ebenso frech wie brillant ist allein die Idee, dass sich die beiden Helden, die ja ohnehin permanent streiten wie ein altes Ehepaar, das Ja-Wort geben; wenn auch nur zum Schein. Boerne hat einen Patenonkel in Amerika, auf dessen Erbe er spekuliert, und da der gute Gustav (Christian Kohlund) homosexuell ist, will er es ihm gleichtun und gibt ausgerechnet Thiel als seinen Ehemann aus. Als es den Onkel nach Münster verschlägt, bleibt dem Kommissar nichts anderes übrig, als den schwulen Gatten zu mimen, denn er steht tief in Boernes Schuld: Der hat ihm nach einem feuchtfröhlichen Abend, mit dem sie die Beförderung von Nadeshda (Friederike Kempter) gefeiert haben, mit einem Luftröhrenschnitt das Leben gerettet, als Thiel an einem Häppchen zu ersticken drohte.
Schon allein diese Einführung würde anderswo locker für einen kompletten Film reichen, aber bei Cantz und Hinter ist sie bloß das Vorspiel. Trotzdem führt sie bereits mitten hinein in den Fall, denn der junge Mann, der kurz drauf mit aufgeschnittener Kehle gefunden wird, ist niemand anders als Gustavs Lebensgefährte. Wie das alles miteinander zusammenhängt, warum Münsteraner Honoratioren in den Fall verwickelt sind, welche Rolle ein Sextett sündhaft teurer Champagnerflaschen spielt und warum sich plötzlich alle Beteiligten im Krankenhaus wiederfinden, ist mitunter fast waghalsig konstruiert; aber dank des außergewöhnlichen Drehbuchs und der Umsetzung durch Kaspar Heidelbach (sein fünfter „Tatort“ aus Münster) fühlt es sich nie so an. Außerdem gelingt den Autoren das Kunststück, eine Fülle an Informationen mit gelassener Beiläufigkeit zu vermitteln und dennoch die Zeit für viele komödiantische Kleinodien zu finden; kaum zu glauben, wie witzig die mehrfache Verwendung eines Wortes wie „Schlauchhalter“ sein kann, wenn die entsprechenden Dialoge so wunderbar dargeboten werden wie von Liefers und ChrisTine Urspruch (als Boernes Assistentin). Eine Verkettung unglücklicher Ereignisse hat zudem zur Folge, dass das halbe Ensemble versehrt ist: Nach dem Luftröhrenschnitt hat Thiel eine Stimme, die ähnlich rauchzart klingt wie die der rauchenden Staatsanwältin Klemm (Mechthild Großmann), die sich wiederum wegen eines Eingriffs in einer Klinik aufhält; und weil Nadeshada von einem flüchtigen Verdächtigen niedergeschlagen worden ist, landet sie im gleichen Zimmer wie Frau Klemm und hört sich vorübergehend so an, als hätte sie ganz schlimme Nasenpolypen
Der Titel charakterisiert exakt die Stimmung des Films, der ungemein lässig eine Vielzahl weiterer Gags und Pointen aus dem Ärmel schüttelt. Der Reim signalisiert das Augenzwinkern, aber der medizinische Fachbegriff Chimärismus liefert die Lösung für den Fall, der kriminalistisch durchaus anspruchsvoll ist: weil die DNS-Analyse an einem weiteren Tatort den Schluss nahe legt, als habe der erste Tote postum einen Mordversuch begangen.