Eine Vorladung in einem Mordfall? Maik Gerster (Till Wonka) ist verunsichert. „Haben Sie Angst?“ Mit dieser Begrüßung auf dem Kommissariat durch Henry Koitzsch (Peter Kurth) ändert sich das nicht. Wenigstens ist dessen Kollege Michael Lehmann (Peter Schneider) freundlicher. Gerster ist der 36. Befragte im sogenannten „Messermord“-Fall. Die Tat hat sich bereits vor drei Monaten ereignet, und die Polizei hat weder Indizien noch einen einzigen Verdächtigen ermitteln können. Der Mörder kam, stach drei Mal auf das Opfer ein und verschwand im Dunkel der Nacht. Eine groß angelegte Funkzellenauswertung ist nun die letzte Hoffnung. Personen, die in der Mordnacht in der Umgebung des Tatorts telefoniert haben, werden vorgeladen. Das Ergebnis: eine Menge Wichtigtuer und Leute, die sich nicht erinnern wollen oder können. Da ist der offenbar demente Born (Hermann Beyer), der mit derselben Straßenbahn wie das Opfer fuhr und der nur noch zu wissen scheint, dass in der DDR alles besser war. Da ist die kesse Katrin Sommer (Cordelia Wege), die bereits Erinnerungslücken hat, wenn es um die eigenen Liebhaber geht. Da ist besagter Gerster, und es gibt auch noch vier Freunde, ein arbeitsloses Paar (Sebastian Weber, Tilla Kratochwil), einen Alkoholiker (Thomas Gerber) und einen Hobby-Elektriker (Harald Polzin), die in der Mordnacht zusammensaßen, gespielt, geschwoft und gesoffen haben. Ausgerechnet diese Kampftrinker können sich erinnern. Jedoch nur an das, was sie selbst „verbrochen“ haben.
Foto: MDR / Felix Abraham
„An der Saale hellem Strande“, der Titel gibt ein Versprechen, irgendwo zwischen volksnaher Poesie und populärem Liedgut. Und der Film hält das Versprechen. Dieser „Polizeiruf 110“ von Thomas Stuber („In den Gängen“, „Tatort – Angriff auf Wache 08“) und dessen bewährtem Ko-Autor Clemens Meyer zum Fünfzigjährigen ist ein ungewöhnlich erzählter Krimi, ein realistisches Drama, das ein spezielles Soziotop zum Leben erweckt. Keine Leiche in der ersten Szene, vielmehr begeben wir uns mit Maik Gerster (aus dessen Perspektive) aufs Kommissariat von Halle, wo dieser vermeintlich Verdächtige zunächst als Zeuge behandelt wird. Doch seine widersprüchlichen Aussagen reißen den vorbestraften Mann dann tiefer hinein als angenommen. In einer launigen Montage wird zeitgleich ein kurzer Querschnitt der bisherigen Befragungen gegeben. Ein Wirrwarr an Stimmen. Nur Widersprüche. Ein ziemliches Chaos. Den erfahrenen Koitzsch kann das nicht aus der Ruhe bringen, Lehmann dagegen denkt ob eines solchen Wahnsinns mit 46 bereits an die Rente. Trotzdem bleibt er ein empathischer, gewissenhafter Kommissar. Entsprechend einfühlsam befragt er die Tochter von Gerster, jenes 36. Handynutzers in der Nähe des Tatorts, und dann ist der Mann, der zu Beginn den Zuschauer in den Film mitgenommen hat, als Verdächtiger raus aus dem Spiel. So etwas ist ungewöhnlich: Denn die erste Sequenz in einer Krimi-Reihe, vor allem wenn sie wie hier in einen mysteriösen Düster-Look getaucht ist, besitzt in der Regel einen Bezug zur Vorgeschichte oder eine wichtige Funktion in Hinblick auf die Auflösung des Falls.
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Bei diesem „Polizeiruf“ zeugt dies aber nicht von schlampiger Dramaturgie. Im Gegenteil. „An der Saale hellem Strande“ macht eben nur so Manches anders als übliche Ermittlerkrimis. Doch während sowohl beim Jubiläumsformat als auch beim „Tatort“ die Grenzen des Genres seit ein paar Jahren sehenswert ausgelotet werden, in Richtung Arthaus-Krimidrama, Mordsgroteske, Metafilm-Experiment oder irgendeiner anderen wilden Genre-Mixtur, verfährt Stubers Film eher nach dem Motto Zurück in die Zukunft. Er stellt die dramaturgischen Prinzipien und Konventionen des Genres, wie wir es heute kennen, ein Stück weit in Frage, nicht, weil er irritieren oder etwas Neues ausprobieren möchte, sondern weil es die Geschichte so will – und weil er damit gleichzeitig auf die erfolgreichen ersten zwanzig Jahre dieser Reihe rekurriert, als diese der DDR-Gegenentwurf zum „Tatort“ war. Im „Polizeiruf“ damals ging es nur selten um Kapitalverbrechen, die passten nicht ins Bild einer sozialistischen Gesellschaft, in der es ja idealerweise eine solche Kriminalität gar nicht geben durfte. Und so mogelte man sich mit Diebstahl, Betrugs- und Sexualdelikten, mit Alkoholmissbrauch und Jugendkriminalität aus dem ideologischen Dilemma. Bei den Fällen ging es vor allem um die Motive, die Psychologie der Tat, die Täter waren häufig Getriebene und sie waren an Ende ebenso oft einsichtig. Bedeutsamer für den heutigen Blick ist die Nähe zum Alltag, der Versuch, Menschen und ihr Milieu zu zeigen. Und genau das war es, was auch Autor Clemens Meyer in den Mittelpunkt dieser Jubiläumsepisode rücken wollte: die kleinen Tragödien und Komödien des Alltags. Dazu gehört auch die Arbeit der Kommissare: Und so müssen diese sich herumschlagen mit oft aberwitzigen Zeugenaussagen. Aber sie tragen auch selbst zum Schmunzeln bei – beispielsweise, wenn sie als Anspielung auf den pädagogischen Impetus der DDR-Reihe, die immer auch Einblicke in die Polizeiarbeit geben sollte, die perfekte Hausdurchsuchung aus dem Off kommentieren („Die Schuhe, es sind immer die Schuhe!“).
Foto: MDR / Felix Abraham
Dieser Film sagt: Es gibt ein Leben jenseits von Mord und Totschlag. Das ist sympathisch. Und wie Stuber & Co das machen, ist kleines großes Fernsehen. Der Film erzählt, anstatt zu erklären. Jede Rückblende ist mehr als nur die Bebilderung einer verbalen Erinnerung. Die Befragungen werden unterbrochen und doch ergibt sich eine flüssige, verständliche Narration. Auf der Zielgeraden geraten die seltsamen Ereignisse in einer Wohnung in den Blick, nur wenige Meter vom Tatort entfernt. Diese Rückblende gehört zum Kapitel „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“ (der Film ist unterteilt in Inserts, die Titel von „Polizeiruf“-Episoden tragen). Natürlich hören die vier Feierbiester nichts außer ihrem eigenen Geplärre oder dem batteriebetriebenen Schlager-Gekrächze. Und das, was sie hier verhandeln müssen und was aus einer ganz normalen Alltagssituation eine lakonische Loser-Katastrophen-Sequenz macht, das ist mindestens so aufregend und unterhaltsam wie der Kriminalfall. Jede Figur bekommt eine Geschichte und eine Relevanz über ihre Funktion im Rahmen des Whodunit hinaus.
Da ist die sexy sächselnde Frau, die offenbar so viel Liebe geben kann und auch mit Koitzsch zu schäkern versteht. Da ist Maik Gerster, bei dem die Kohle einfach nie reicht für ein normales Leben – und der deswegen schon mal ausrasten kann. Oder da ist der alte Ostalgiker, dem seine Erinnerungsschwäche das Leben vermiest („Ich bin nutzlos“). Lauter kleine Alltagsgeschichten, dramaturgisch klug kombinierte Miniaturen. Und auch die Kommissare sind – anders als im „Polizeiruf“ zu DDR-Zeiten – keine biographielosen Erfüllungsgehilfen. Die Beiläufigkeit, mit der das Private in einer Auftaktepisode einer neuen Reihe gesetzt wird, gehört zum Bemerkenswertesten. Das fängt mit Informationen zur Person an: Bei Koitzsch‘ Flirt erfährt man zufällig, dass er geschieden ist, ebenso stimmig in den Dialog eingewoben, der Verweis auf Lehmanns ersten Beruf, Pfleger. Und dieser Mann ist ein Familienmensch; dies wird dicht und kompakt erzählt in einer einzigen Szene. Koitzsch dagegen besucht in seiner Freizeit lieber seine Stammkneipe oder im Knast einen alten Kumpel, der einen Mord begangen hat. Großen Unterhaltungswert besitzt sein tragikomisches Blind Date, das trotz oder gerade wegen des anschließenden One-Night-Stand eine eher verzweifelte, schmerzliche Erfahrung bleibt. und auch für Henry Koitzsch gilt: „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“.
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Gute bis sehr gute Krimi-Dramen gibt es hierzulande erfreulicherweise des Öfteren. In „An der Saale hellem Strande“ aber stimmt einfach alles: das Milieu, dazu die passenden Kommissare, die wiederum perfekt besetzt sind mit dem unnachahmlichen Peter Kurth und dem als Typus-Kontrapunkt kaum minder überzeugenden Peter Schneider. Ihre beiden Charaktere passen zur Dramaturgie und sie scheinen geradezu dieser vermeintlich altmodischen Art von Realismus zu entspringen, der von den Gewerken – allen voran dem Szenenbild – kongenial umgesetzt wird. Schneider und vor allem Kurth sind die Taktgeber der Geschichte. Sie halten alles zusammen, geben maßgeblich Stimmung, Tonlage und Tempo vor. Sowohl die potenziellen Antagonisten als auch die Montage können ihnen nichts. Diese Variation einer kriminalistischen Tätersuche wirkt bis ins Letzte durchdacht. Der Schluss bringt zwar eine Überraschung, aber die passt zu diesem trockenen Realismus; darüber hinaus liefert das Ende eine prima Vorlage fürs horizontale Weitererzählen. (Text-Stand: 30.4.2021)