Von all den Versuchen, das Beste aus der derzeitigen Lage zu machen, ist „Drinnen“ mit Abstand der originellste und unterhaltsamste. Dabei funktioniert die Serie ganz einfach, denn der Hauptfigur, Charlotte (Lavinia Wilson), geht es nicht anders als dem Rest der Republik: Sie muss zu Hause bleiben und Leben, Beruf und Familie digital organisieren. Ehemann Markus (Barnaby Metschurat), ein offenbar brotloser Künstler, ist mit den Kindern im brandenburgischen Kurzurlaub, wo Charlotte ihn kurzerhand zum Exil verdonnert; sie ist ganz froh, den Gatten, von dem sie sich schon länger trennen will, für eine Weile los zu sein. Eigentlich könnte sie ihr Dasein genießen; aber ihre Chefin hat andere Pläne.
Die jeweils zehn Minuten kurzen Geschichten imponieren nicht nur durch Kurzweiligkeit, sondern auch durch Kurzfristigkeit. „Drinnen“ ist die perfekte Antwort auf die Corona-Krise: An jedem Werktag entsteht mit ein bis zwei Tagen Vorlauf eine neue Folge, sodass die Autoren auf aktuelle Ereignisse reagieren können. Selten hat die Redensart „aus der Not eine Tugend machen“ so gepasst wie hier, zumal die improvisationsgeschulte Lavinia Wilson ganz in ihrem Element ist. Als Kamera fungiert die Webcam ihres Laptops, und wer bislang noch nicht wusste, was für eine famose Schauspielerin sie ist: Diese One-Woman-Show ist definitiv preiswürdig, zumal sie alle Register zieht, aber nie übertreibt; deshalb funktioniert sogar der Uralt-Gag, als Charlotte ein Videogespräch mit peinlicher Gurkenmaske annimmt. Sehr lebensnah ist auch ihr Anruf bei der Covid-19-Hotline („Die geschätzte Wartezeit beträgt 17 Stunden“): Natürlich wird sie ausgerechnet dann verbunden, als sie unter der Dusche steht.
Den größten Spaß macht die im Auftrag der ZDF-Redaktion Das kleine Fernsehspiel produzierte Serie, wenn sich Charlotte wieder mal am Rand des Nervenzusammenbruchs bewegt. Veronica Winkler (Johanna Gastdorf), die Chefin der Werbeagentur, in der sie arbeitet, hat sich mutmaßlich mit dem Virus infiziert und ihr die Leitung der Firma übertragen. Die meisten Männer würden sich am Ziel ihrer Wünsche sehen, aber Charlotte wird von Selbstzweifeln geschüttelt, weil sie nicht nur einen Pitch vorbereiten, sondern zudem per Videoschaltung eine Kündigung überbringen soll. Bei der Kollegin (Julika Jenkins) geht grade alles drunter und drüber, und als ihr Mann (Arnd Klawitter) dann auch noch eine herzzerreißende Version von „Yesterday“ zum Besten gibt, gibt sie sich geschlagen.
Auch der Pitch startet komplett chaotisch, aber irgendwie hat Charlotte doch noch die Kurve gekriegt, denn die nächste Folge beginnt mit großer Freude. Frau Winkler, die mittlerweile im Krankenhaus ist, hat ihr zum Dank einen Vibrator geschickt, den Charlotte gleich mal ausprobiert, was ihre Befriedigung sichtlich steigert. Aber während sie nebenan ihren Spaß hatte, hat Freundin Lisa (Nadja Becker) versucht, sie zu erreichen, um ihr mitzuteilen, dass die Chefin auf die Intensivstation verlegt worden ist. Damit ist das Prinzip von „Drinnen“ klar: Die Serie funktioniert wie eine Achterbahnfahrt, es geht ständig rauf und runter, hin und her; und Charlotte befindet sich im Auge des Sturms.
Einen nicht unerheblichen Anteil an der Überforderung der Hauptfigur haben ihre Eltern, die gern mal im falschen Moment anrufen und die Krise nicht ernst nehmen: Mutter Ulrike (Victoria Trauttmansdorff) schlägt alle Warnungen in den Wind und geht zum nun privat stattfindenden Pilates-Kurs, Vater Bernd (Wolf-Dietrich Sprenger) sorgt für eine ganz persönliche exponentielle Steigerung der Gefahr und beginnt wieder zu rauchen, obwohl er Asthma hat. Die technischen Hindernisse bei den Videochats mit den Eltern („Skeipen“), die sich zudem um die in Thailand gestrandete jüngere Tochter Constanze (Jana Pallaske) sorgen, stammen ebenfalls direkt aus dem Leben und entsprechen eins zu eins den Erfahrungen, die derzeit viele Menschen beim digitalen Kontakt mit Eltern und Großeltern machen.
Die weiteren Mitwirkenden sind ebenfalls per Webcam zugeschaltet, und auch in dieser Hinsicht sorgt Regisseur Lutz Heineking jr., der mit Wilson bereits die TNT-Mockumentary „Andere Eltern“ gedreht hat, für allerlei Heiterkeit. Am witzigsten sind die Momente, in denen Charlotte mehrere Videochats gleichzeitig führt, aber zwischendurch vergisst, dass die anderen noch in der Leitung sind. Dass ihre Eltern empört reagieren, weil sie glauben, Constanze sei längst wieder im Lande, ist da noch die harmloseste Variante; dummerweise bekommt auch der wichtige Werbekunde Sätze mit, die nicht für seine Ohren bestimmt waren.
Ihre ganze Wirkung entfaltet die Webserie ohnehin nicht bei der wöchentlichen Zusammenfassung auf Neo, sondern tatsächlich auf dem Laptop. Heineking streut zwischendurch immer wieder ein, was Charlotte am Rechner treibt, wenn sie sich durch Tinder klickt, Google befragt („Was kann ein Auflegevibrator“) oder ihre To-do-Liste ergänzt (Chatroulette, Bücher nach Farben sortieren). Wegen solcher Details lohnt es, auch mal „zurückzuspulen“, wie die Generation von Bernd und Ulrike sagen würde, zumal Lavinia Wilson anders als bei Produktionen fürs „Zweite“ dankenswerterweise nicht vorlesen muss, was sie tippt. Statt einer Filmmusik erklingen die Popsongs, die sich Charlotte anhört. Mehr als nur eine lobende Erwähnung verdienen auch die Beteiligten der Postproduktion, die quasi über Nacht aus dem Sammelsurium der vielen selbst gefilmten Videodateien eine sendefähige Folge gebastelt haben, natürlich ebenfalls im Homeoffice, denn: „Kein menschliches Wesen musste für diese Serie sein Haus verlassen!“ (Text-Stand: 10.4.2020)