Eine Berliner Backwarenverkäuferin verliert nach über zwanzig Jahren ihren Job, weil sie sich nichts sagen lässt, zu Eigenmächtigkeiten neigt und die Kolleginnen zum Streik angestachelt hat. Aber Tina Sanftleben lässt sich nicht unterkriegen, kauft sich ein Auto, das sich als mobiler Verkaufsstand nutzen lässt, und fährt weiterhin ins brandenburgische Umland, wobei sie sich allmorgendlich ein Wettrennen mit ihrer Nachfolgerin liefert: Das klingt wie eine Dienstagsserie, zumal Gabriela Maria Schmeide die Titelfigur als Frau mit großem Herzen verkörpert. Es dauert fast eine Spielfilmlänge, bis sich herausstellt, warum die ARD „Tina mobil“ in Doppelfolgen an drei aufeinanderfolgenden Mittwochabenden ausstrahlt: Plötzlich zeigt Tina ein Gesicht, das vielleicht nicht ihr wahres, aber ein gänzlich anderes ist.
Bis dahin jedoch erzählen Laila Stieler (Buch) und Richard Huber (Regie) eine Geschichte aus der Mitte des Lebens, die vor allem Mut macht. Seit sie sich vom Gatten (Alexander Hörbe) getrennt hat, schlägt sich Tina mit ihren drei fast erwachsenen Kindern alleine durch. Die Familie entspricht schon optisch nicht den Maßstäben üblicher Fernsehfamilien. Caro (Runa Greiner), gelernte Kosmetikerin, vergräbt sich seit geraumer Zeit in der Wohnung, und Felix (David Ali Rashed) wird es im Leben höchstwahrscheinlich nicht sonderlich weit bringen. Tina liebt auch sie, aber ihr Augenstern ist Julia (Fine Sendel), eine begnadete Musikerin, der womöglich eine große Karriere bevorsteht. Die Mutter malt sich die Zukunft ihrer Tochter in den rosigsten Farben aus und nimmt überhaupt nicht wahr, dass das Mädchen eigene Pläne hat. Huber (Grimme-Preis für „Dr. Psycho“, Bayerischer Fernsehpreis für „Club der roten Bänder“), inszeniert das sehr behutsam: Als Julia ungewollt schwanger wird, begleitet Tina sie erst zur Frauenärztin und dann zur Beratungsstelle, schließlich ist das Mädchen viel zu jung, um ein Kind zu bekommen. Weil die Tochter nur sehr zögerlich antwortet, übernimmt die Mutter die Antworten, und so kommt es schließlich zu einem innerfamiliären Eklat, der Tina in völlig anderem Licht erscheinen lässt: Ausgerechnet die Frau, die sich aufopfert, um ihren Kindern ein einigermaßen behütetes Leben bieten zu können, wirkt auf einmal herzlos.
Gabriela Maria Schmeide, die hinter Tinas Fröhlichkeit eine große Melancholie durchschimmern lässt, deren traurige Ursache erst viel später ans Licht kommt, muss die Serie wie ein Geschenk empfunden haben. Für Schauspielerinnen jenseits der vierzig werden die Angebote ohnehin rarer; jenseits der fünfzig sind weibliche Hauptrollen nur noch wenigen Stars vorbehalten. Ungewöhnlich an „Tina mobil“ ist jedoch nicht nur das Alter der zentralen Figur. Aus dem Rahmen fallen die sechs dramaturgisch in sich abgeschlossenen, aber horizontal erzählten Geschichten vor allem wegen der Lebensumstände: Die Sanftlebens sind eine ganz normale Familie. Während Konflikte sonst stets auf die Spitze getrieben werden, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen, ist „Tina mobil“ Alltag pur, und zwar der Alltag von Menschen, deren Leben im Fernsehen nur selten erzählt wird: Tina holt sich Lebensmittel bei der Tafel und schämt sich anfangs dafür. Der Nachwuchs ist nicht etwa renitent, sondern versucht, die Mutter zu entlasten, und murrt selbst dann nicht, als es zum wiederholten Mal Spinat gibt. Wie sich die Kinder, denen Stieler jeweils eine Folge widmet, langsam von Tina abnabeln, ist mit viel Feingefühl erzählt und eindrucksvoll gespielt. Das gilt vor allem für Runa Greiner: Als Tina ihren Führerschein abgeben muss, springt Caro als Fahrerin ein, beglückt die Kundinnen ihrer Mutter mit Kosmetiktipps und blüht regelrecht auf; Greiners Verkörperung dieser Metamorphose ist ebenso preiswürdig wie Schmeides Spiel.
Sehr anrührend ist auch Alexander Hörbe als Ex-Mann Harry, der jederzeit zu Tina zurückkehren würde. Ohnehin macht Stieler, die für die Hauptdarstellerin schon die Milieustudien „Die Polizistin“ (2001, Regie: Andreas Dresen, Grimme-Preis für alle drei) und „Die Friseuse“ (2010, Regie: Doris Dörrie) geschrieben hat, angenehm wenig Drama aus Tinas Situation. Das gilt für das kleine Ungemach ebenso wie für die potenzielle Tragödie: Meist gelingt es Tina, ihren Kopf aus der Schlinge zu quasseln, und wenn das nicht hilft, finden sich andere Auswege; so wird zum Beispiel ausgerechnet die tschetschenische Konkurrentin Safaa (Margarita Breitkreiz) zur Retterin der Not. Dazu passt auch Hubers betont unaufgeregter Regiestil. Die Serie verhehlt nicht, dass Tina es nicht leicht hat, und ihre scheinbar unerschütterliche Zuversicht wirkt mitunter unangebracht, aber meistens gelingt es ihr dank ihrer Hartnäckigkeit, für jedes Problem eine passende Lösung zu finden.
RBB-Filmchefin Martina Zöllner setzt „Tina mobil“ in Zusammenhang mit „Warten auf‘n Bus“ (2020), jener radikal reduzierten RBB-Serie von Oliver Bukowski (Buch) und Dirk Kummer (Regie) über zwei Männer, die an einer Bushaltestelle über Gott und die Welt plaudern. Beide Produktionen versuchten, „die Zerreißproben, die unsere Gesellschaft heute zu bestehen hat, aus deren vermeintlichen Randzonen heraus zu erzählen und zu verstehen: die Spaltung zwischen oben und unten, Ost und West, Gewinnern und Verlierern, Stadt und Land, rechts und links.“ All’ das bürden Stieler und Huber ihrer Serie jedoch nicht auf. „Tina mobil“ ist kein Sozialdrama, sondern orientiert sich vielmehr am lakonischen Humor und der großen Wahrhaftigkeit, mit der der Brite Ken Loach („Raining Stones“, „Ich, Daniel Blake“) seine Geschichten erzählt. Das Thema ist trotzdem ernst, denn letztlich zeigt Tinas Schicksal, wie leicht man aus der unteren Mittelschicht in die Armutsfalle abrutschen kann: Ihr Dasein ist derart auf Kante genäht, dass kleine Ursachen gleich eine fatale Wirkung haben können; von einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt ganz zu schweigen. Julias Baby bringt zwar Farbe in die Familie, macht das Leben aber auch nicht einfacher.
Dass allen Beteiligten ein ganz besonderes Projekt vorschwebte, zeigt sich nicht zuletzt an der sorgfältigen Besetzung auch kleinster Nebenrollen mit herausragenden und zumindest im Osten nicht in Vergessenheit geratenen alten Schauspielerinnen und Schauspielern alter Schule, unter anderem Monika Lennartz, Ursula Werner und Axel Werner als Kundinnen und Kunden, für deren Sorgen Tina stets ein offenes Ohr hat. Ein großes Vergnügen ist auch Ann-Kathrin Gummich als ruppige beste Freundin und ehemalige Soldatin mit nicht unerheblichem Rechtsdrall. Klassiker von Gundermann, Karat und Veronika Fischer unterstreichen diese Verbeugung vor der ostdeutschen Kultur, die weit von Ostalgie entfernt ist. Für Wehmut sorgen schmerzlich schöne Bilder wie die Aufnahmen der aus dem Nebel in die Morgensonne aufsteigenden Ballons, die Tina am Premierentag an ihrem Backmobil befestigt hat. Zu diesem Bild passt ein Rat, den Safaa ihrer Chefin gibt: „Wenn Du willst, was du noch nie hattest, musst du tun, was du noch nie tatest.“ Die ARD zeigt die Serie mittwochs in Doppelfolgen, in der Mediathek kann sie komplett bereits ab dem 16. September abgerufen werden.