Das Taxi erfüllt eine ähnliche Funktion wie die Couch beim Psychotherapeuten: Hier wie dort sind die Menschen bereit, Wildfremden ihr Herz auszuschütten. Michael Kessler hat mit dem RBB-Format „Sitzheizung gibt’s nicht“ (2017) sogar mal eine Auto-Talkshow moderiert. Jim Jarmuschs Film „Night on Earth“ (1991) trägt sich ebenfalls ausschließlich im Auto zu. Nun hat Joyn eine Serie rund um einen Taxifahrer produzieren lassen. Dass Hauptfigur Ben (Kostja Ullmann) auf eigene Rechnung und hauptberuflich für Uber fährt, ist vermutlich eher eine Reminiszenz an die Zielgruppe. Dramaturgische Gründe gibt es jedenfalls nicht, sieht man davon ab, dass Details wie Fahrtziel und Bezahlung online geregelt werden; die Kunden müssen also kein einziges Wort mit dem Fahrer wechseln, wenn sie nicht wollen. Daher beginnt die erste von sechs Folgen mit einer Frau (Catrin Striebeck), die einer Freundin telefonisch von einem denkwürdigen Erlebnis mit anschließendem leidenschaftlichem Sex erzählt, Ben jedoch keines Blickes würdigt.
1982 hat die Neue-Deutsche-Welle-Band Jawoll den Taxifahrern dieser Welt mit dem Lied „Ich fahr’ Taxi, Tag und Nacht“ ein musikalisches Denkmal gesetzt. Der überschaubare Songtext fasst recht gut zusammen, worum es in der Serie geht: Ben sammelt Begegnungen. Einige sind dramatisch, andere eher heiter; mal kutschiert er einen Hund, der gern Herbert Grönemeyer hört. Die sechs Folgen basieren auf dem auch als Buch erschienenen Blog „Diary of an Uber Driver“ von Ben Phillips, der darin seine Erlebnisse als Uber-Fahrer in Sydney schildert; der australische Sender ABC hat daraus bereits 2019 eine Serie gemacht. Ähnlich wie in „Night on Earth“ sind Bens Geschichten so episodisch strukturiert wie jeder ganz normale Tag eines Taxifahrers: Manche Fahrgäste sitzen nur kurz in seinem Auto, mit anderen verbringt er richtig viel Zeit. Durchgehendes Element der Serie ist seine Nicht-Beziehung zu Nadja (Claudia Eisinger): Ihr voluminöser Bauch zeigt deutlich, dass eine gemeinsame Nacht vor sieben Monaten nicht ohne Folgen geblieben ist. Ben wäre gern mehr als nur ein Samenspender, stellt sich dabei allerdings nicht besonders geschickt an; trotzdem finden die beiden im Verlauf der Serie eine Basis, auf der sich zumindest aufbauen lässt.
Natürlich spielen viele Szenen der jeweils knapp dreißig Minuten kurzen und entsprechend kurzweiligen Folgen im Auto, und weil Ben dauernd unterwegs ist, wird die Serie Hamburg-Fans große Freude machen; Kameramann Manuel Mack und Regisseur Julian Pörksen, der zehn von dreißig Drehtagen mit zwei Monitoren im Kofferraum verbracht hat, haben dafür gesorgt, dass die Hansestadt bestens zur Geltung kommt. Oft ist Ben auch bloß Vorwand für einen Exkurs, in dem er selbst überhaupt nicht mitwirkt, weil die Kamera zum Beispiel dem schnöseligen Architekten Michael (Hans Löw) folgt. Dessen Dasein nimmt eine Wende, als er im Haus gegenüber einen leblosen Nachbarn sieht. Der Mann reagiert auf seine Sorge zwar denkbar undankbar, aber Michael, so legt es das Drehbuch von Georg Lippert („Tatort – Die goldene Zeit“) zumindest nahe, überdenkt durch die Erfahrung seine misanthrope Haltung.
Ben ist ohnehin in den meisten Szenen bloß eine Art Katalysator. Lippert, Autor des wunderbaren Debütfilms „Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut“ (2015), benützt ihn, um Schlaglichter auf das Leben anderer Menschen zu werfen. Mal kann Ben Beistand leisten, etwa bei einer Frau (Susanne Wolff), die eben erfahren hat, dass sie unheilbar krank ist; oder bei einem jungen Mann (Edin Hasanovic) mit offenbar zwielichtiger Vergangenheit, der gerade vom Vorstellungsgespräch kommt und dank Bens verblüffender Fürsprache tatsächlich den Job bekommt. Andere Fahrten sind einfach nur skurril: Ein von Pheline Roggan und Fahri Yardim verkörpertes Pärchen war beim „Beziehungs-Workout“, was die Frau nicht davon abhält, Ben eindeutige Avancen zu machen.
Yardim hat die Serie mit seiner Firma Bon Voayage Films auch produziert; das erklärt möglicherweise die vielen Gastauftritte bekannter Schauspieler. Lars Rudolph, Hauptdarsteller von Pörksens Debütdrama „Whatever Happens Next“ (2018), hat eine denkwürdige Szene als „Steuerberater“ mit offenbar besten Beziehungen zur Hamburger Unterwelt, der Ben aus einer peinlichen Patsche hilft. Eher bizarr sind dagegen die Fahrten mit Nadjas jüngerem Bruder Kai (Timur Bartels), der sich als sehr seltsamer Zeitgenosse entpuppt und verstörende Fragen stellt; Ben revanchiert sich, in dem er ihm mit einer witzigen Scharade eine Lektion erteilt. Eine Art Running Gag sind die Attacken erboster echter Taxifahrer, die Ben regelmäßig beschimpfen oder ihm ihr Mittagessen auf die Windschutzscheibe werfen. Einer bekommt auch ein Gesicht: Der Afrikaner Ebo (Ibrahima Sanogo) ist auf die Einnahmen angewiesen, weil er Frau und Kind nach Deutschland holen will. In der entsprechenden Episode taucht Ben zunächst gar nicht auf; die Handlung wechselt gewissermaßen das Fahrzeug, als er dem Taxifahrer eine sicher geglaubte Fuhre scheinbar vor der Nase wegschnappt. Später, es ist Halloween, geben sich Bart und Lisa Simpson auf Bens Rückbank lustvoll dem Inzest hin.
Diese Sprunghaftigkeit ist typisch: Im Grunde ist „Aus dem Tagebuch eines Uber-Fahrers“ keine Serie, sondern eine Sammlung von Anekdoten, in deren Verlauf sich wie bei einem Persönlichkeitspuzzle nach und nach Bens Charakter zusammensetzt. Zu den schönsten zählt das Aufeinandertreffen mit einem alten Mann (Peter Franke), der ihn nach dem Austausch einiger Grobheiten in sein Herz schließt und stolz seine Kellerbrauerei präsentiert. Der Alte findet, Ben sei immer allein. Ben widerspricht, er sei im Gegenteil nie allein, aber in Wirklichkeit ist er wie einst Travis Bickle in Martins Scorseses „Taxi Driver“ Gottes einsamer Mann, der planlos und unbehaust durch sein Leben fährt. (Text-Stand: 12.5.2020)