Die erfolgreiche Wiener Architektin Marie hat ihr Leben auch als Frau und Mutter perfekt im Griff. Eines Tages jedoch entgleiten ihr die Dinge, im übertragenen Sinn sowie buchstäblich: Ihre rechte Hand fühlt sich immer öfter an, als wäre sie eingeschlafen. Ihr Sohn kommt beim Kletterausflug der Familie zwar mit dem Schrecken davon, als Marie sein Seil nicht halten kann, aber sie nimmt den Warnschuss ernst und lässt sich untersuchen. Die Diagnose ist niederschmetternd: Multiple Sklerose. Fortan ist nichts mehr, wie es mal war.
Weil der deutsche Fernsehfilm größtenteils aus Krimis und Komödien besteht, werden sich vermutlich viele Schauspielerinnen fragen, warum Rollen wie diese so oft an Julia Koschitz vergeben werden. Die Antwort lautet Johannes Fabrick. In den Filmen des österreichischen Regisseurs geht es regelmäßig um existenzielle Herausforderungen, und meist ist Koschitz dabei erste Wahl. In „Der letzte schöne Tag“ (2012, ARD; Grimme-Preis für Fabrick) verkörperte sie eine Mutter, die sich das Leben nimmt, in „Pass gut auf ihn auf!“ (2013, ZDF) eine unheilbar an Krebs erkrankte Frau, die ihren Mann mit seiner Ex-Frau verkuppeln will, in „Wenn es am schönsten ist“ (2014, ZDF) die Freundin eines Mannes, der an Leukämie erkrankt, in „Zweimal lebenslänglich“ (2017, ZDF) die Frau eines verurteilten Mörders. Kein Wunder, dass der Name Koschitz auch dann fällt, wenn Fabrick gar nicht beteiligt ist.
Regisseurin Vivian Naefe („Die wilden Hühner“) hat in letzter Zeit zwar vermehrt Komödien à la „Chaos Queens“ („Die Braut sagt leider nein“, ZDF 2017) oder ARD-Freitagsfilme („Reiterhof Wildenstein“, 2019) gedreht, aber natürlich beherrscht sie ernste Stoffe ebenfalls. Auch in solchen Fällen haben ihre Inszenierungen gern eine komische Note, wie etwa bei „Mama geht nicht mehr“ (2016, ZDF), eine Tragikomödie mit Mariele Millowitsch als krebskranke Ärztin, die vor dem Tod Frieden mit ihrer Tochter schließen will. „Balanceakt“ ist dagegen in erster Linie Drama, weil Maries Dasein völlig aus dem Gleichgewicht gerät. Der Titel ist daher treffend gewählt, denn sie muss ihr Leben neu ordnen und einen Ausgleich zwischen Krankheit, Familie und Beruf finden. Zunächst versucht sie jedoch, erst mal so weiterzumachen wie bisher, was nicht gut gehen kann, weil sich die Symptome irgendwann nicht mehr verbergen lassen. Gegenüber ihrer wichtigsten Auftraggeberin erfindet die Architektin immer wieder neue Unpässlichkeiten, und auch ihren Eltern (Ulli Maier, Peter Lerchbaumer) würde sie die Diagnose am liebsten verschweigen. Es ist ihr Mann Axel (David Rott), der bei einem Besuch damit herausplatzt, und das ausgerechnet in dem Moment, als Maries Schwester Kerstin (Franziska Weisz) verkündet hat, sie werde demnächst heiraten.
Drehbuchutorin Agnes Pluch hat unter anderem gemeinsam mit Nikolaus Leytner das Drehbuch zu dessen Drama „Am Ende des Sommers“ (2015, ARD) geschrieben, eine mit viel Feingefühl erzählte Geschichte eines jungen Mannes, der erfährt, dass er bei einer Vergewaltigung gezeugt worden ist (mit Julia Koschitz als Mutter). An Leytners Drama „Die Auslöschung“ (2013, ARD) war Pluch ebenfalls maßgeblich beteiligt. Dieser Film handelt vordergründig zwar von einer Alzheimer-Erkrankung, ist im Grunde jedoch eine Liebesgeschichte. So ähnlich funktioniert auch „Balanceakt“, eine Koproduktion von ZDF und ORF. Wie in „Die Auslöschung“ spielt der Krankheitsverlauf eine maßgebliche Rolle, aber das Drehbuch konzentriert sich zunächst auf die Beziehung des (unverheirateten) Paars.
Zunehmende Bedeutung bekommt auch das Verhältnis der beiden völlig verschiedenen Schwestern: Marie hat stets gewusst, was sie wollte; Kerstin dagegen führt ein eher unstetes Dasein, hat die Welt bereist, gerät regelmäßig an die falschen Männer und arbeitet in einem Fitnessstudio. Wenn sich die beiden Frauen begegnen, brechen prompt alte Feindseligkeiten durch, weil sie einander im Stillen immer beneidet haben, die eine um die Ungebundenheit, die andere um die Sicherheit; aber am Ende ist es doch Kerstin, bei der sich Marie meldet, als sie sich mit Axel gestritten hat. Die Rolle des von David Rott mit leichtem Wiener Akzent versehenen Lebensgefährten ist ebenfalls vielschichtig: Axel ist Komponist und Musiker, seine Kunst jedoch brotlos. Marie ist die Ernährerin der Familie, und dass sie dies in Momenten der Beziehungskrise betont, trägt maßgeblich dazu bei, dass die Hauptfigur keine makellose Heldin ist. Als sie nicht mehr arbeiten kann, besorgt sich Axel einen wenig befriedigenden Job als Musiklehrer, außerdem verzichtet er auf ein äußerst attraktives Projekt; und natürlich kommt auch das irgendwann als Vorwurf zur Sprache.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass dieser Stoff ausgerechnet Vivian Naefe angeboten wurde. Als sie acht war, starb ihre Mutter an einer Lungenentzündung, die eine Nebenerscheinung ihrer chronischen Krankheit war: Multiple Sklerose. Kein Wunder, dass die Regisseurin das Angebot als „schicksalshaft“ bezeichnet; Sender und Produzenten hatten keine Ahnung von der Vorgeschichte. Es ist der Regisseurin umso höher anzurechnen, dass ihr bei der Umsetzung des Drehbuchs ebenfalls ein Balanceakt gelungen ist: weil sie das Auf und Ab der Geschichte aller Tragik zum Trotz vergleichsweise nüchtern erzählt, selbst wenn bei Maries Angehörigen die Tränen fließen. Auch die Musik (Martin Probst) ist in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend. Für ein MS-Drama enthält der Film zudem einige verblüffend ausgelassene Momente (etwa nach dem Genuss von Haschkeksen). Am witzigsten in dieser Hinsicht ist ein „Krüppel-Rennen“ der beiden Schwestern. Weil Kerstin zumindest nach außen die deutlich emotionalere der beiden Frauen ist, verbreitet Franziska Weiz mit der für ihre Verhältnisse ungewohnt fröhlichen Rolle auch dank der Dialoge viel Heiterkeit. Marie: „Ich hasse Überraschungen!“ Kerstin, strahlend: „Ja, ich weiß!“ – und dann holt sie einen Rollstuhl aus dem Kofferraum.
Koschitz hat sich in Gesprächen mit Betroffenen auf die Dreharbeiten vorbereitet und dabei festgestellt, wie nah Pluchs Buch an der Realität war. Die Frauen, erzählt sie im Interview, hätten genau das gleiche durchgemacht wie Marie: „Erst kommt die Abwehr, das Negieren der Krankheit und die Überzeugung, dass man das bisherige Leben trotzdem so weiterführen kann – bis hin zum Zusammenbruch und der Erkenntnis, dass man sich auf eine maßgebliche Veränderung in seinem Alltag, in seiner Einstellung zum Leben und zu sich selbst einlassen muss.“ Dennoch ist „Balanceakt“ ein lebensbejahender Film mit positiver Botschaft, die Marie am Ende so formuliert: „Ich lebe weiter. Nicht trotz der Krankheit, sondern mit ihr.“