Als das ZDF vor 25 Jahren beschloss, aus der Romanheldin Bella Block eine Fernsehfigur zu machen, konnte der Sender nicht ahnen, welch’ hartnäckiges Bildschirmleben der Reihe beschieden sein würde; ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Film, der seine TV-Premiere im Dezember 1993 auf Arte erlebte, als Einzelstück geplant war. Dem Auftakt mit dem schlichten Titel „Die Kommissarin“ sollten noch weitere 37 Krimis folgen. Die Hamburger Ermittlerin ist somit eine der dienstältesten TV-Fguren überhaupt; auch wenn für die ZDF-Reihen „Ein starkes Team“ (seit 1994) und „Wilsberg“ (1995) jeweils viel mehr Folgen gedreht worden sind. Im ARD-„Tatort“ sind allein Lena Odenthal aus Ludwigshafen (seit 1989) sowie das Münchener Duo Leitmayr und Batic (seit 1991) länger im Dienst. Bella Block war zwar bei weitem nicht die erste TV-Kommissarin, schließlich hat es der damalige Südwestfunk bereits 1978 gewagt, mit Oberkommissarin Buchmüller die erste Frau zur „Tatort“-Ermittlerin zu machen, aber sie hat in den 90er Jahren gemeinsam mit Lena Odenthal und Rosa Roth (ebenfalls seit 1994 im ZDF) den Boden für viele Kolleginnen bereitet: weil sie auch dank ihrer Darstellerin Hannelore Hoger stets mehr war als eine Fernsehfigur. Neben einem hohen moralischen Anspruch dürfte der Eigensinn Bella Blocks prägendstes Merkmal gewesen sein; eine Eigenschaft, die auch ZDF-Kommissarinnen wie die interne Ermittlerin Prohacek („Unter Verdacht“, seit 2002) oder LKA-Frau Helen Dorn (seit 2014) auszeichnen.
Doch während sich die Besonderheit der anderen frühen Ermittlerinnen in der Tat darauf beschränkte, dass sie Frauen oder „burschikos“ waren (das meistgebrauchte Attribut für Lena Odenthal), zeichnete sich Bella Block vom ersten Film an durch ihre Sperrigkeit aus. Die Kommissarin sagte, was sie dachte, tat, was sie sagte, hatte ein politisches Bewusstsein, ließ sich von Obrigkeiten nie einschüchtern und kaschierte die durchaus vorhandene Verletzlichkeit durch Ironie, die gern auch mal in Sarkasmus und in den letzten Jahren immer öfter in eine gewisse Selbstgerechtigkeit umschlug. Mitte der 90er aber hatte das deutsche Fernsehen so eine Frau noch nicht gesehen; jedenfalls nicht als Reihenfigur. Gleich die erste Folge wurde mit dem Grimme-Preis (für Hoger & Autor/Regisseur Färberböck) gewürdigt. Es folgte eine Vielzahl von weiteren Auszeichnungen, darunter mehrere Deutsche Fernsehpreise. Sie waren der Lohn für das Bemühen von Redaktion und Produktion, immer wieder Themen von gesellschaftlicher Relevanz aufzugreifen, ohne darüber den Krimistatus zu vernachlässigen; leichte Kost war „Bella Block“ nie, aber von Anfang an ein Beispiel für die Maxime des damaligen Fernsehspielchefs Hans Janke, den Zuschauer „Qualität im Populären“ zu bieten. Kein Wunder, dass man beim ZDF heute fast ehrfürchtig von einer Legende spricht.
Anders als die meisten ihrer TV-Kolleginnen lebte Bella Block, die sich mit den Jahren immer weiter von Doris Gehrckes zunehmend düster werdenden Romanfigur entfernt hat, zudem viele Jahre lang in einer funktionierenden Beziehung, und das auch noch mit einem Literatur-Professor, was es den Autorinnen und Autoren ermöglichte, das Paar Dialoge mit einem gewissen intellektuellen Anspruch führen zu lassen; ein weiteres Alleinstellungsmerkmal. Dass Simon Abendroth (Rudolf Kowalski) seiner früheren Lebensgefährtin in der Abschiedsfolge gleich zweimal das Leben rettet, ist daher eine schöne Verbeugung vor der Figur. Die 38. Episode, „Am Abgrund“, ist ohnehin fast eine Art Klassentreffen. Zu diesem Zweck hat sich Susanne Schneider eine Geschichte ausgedacht, die noch mal großes Fernsehen und ein würdiger Abschluss der Reihe ist. Da das Drehbuch der Autorin im Laufe der Produktion einige Male überarbeitet worden ist, haben sich die Beteiligten statt einer Autoren-Nennung auf die Formulierung „nach einer Vorlage von Susanne Schneider“ geeinigt.
Die Handlung beginnt mit einem Abendessen: Oberstaatsanwalt Mehlhorn (Hansjürgen Hürrig) möchte die Hauptkommissarin a.D. überreden, ihn bei der Aufdeckung einer „unglaublichen Schweinerei“ zu unterstützen, aber Bella Block will „den ganzen Mist“ endlich hinter sich lassen. Kurz drauf ist Mehlhorn tot, zerrissen von einer Autobombe; sie hat nur überlebt, weil sie einen Anruf von Simon bekommen hat und aus dem Wagen ausgestiegen ist. Dieser dramatische und spektakulär gefilmte Einstieg lässt auch die sonst oft so abgebrüht erscheinende Pensionärin nicht kalt. Trotz des traumatischen Erlebnisses ist sie es dem Freund schuldig, seine Ermittlungen aufzugreifen. Mehlhorn war in der Tat einer großen Sache auf der Spur: Eine Hamburger Honoratiorenclique sorgt dafür, dass Mieter aus ihren Häusern verdrängt werden, damit die Gebäude luxussaniert werden können. Drahtzieher sind ausgerechnet Generalstaatsanwalt Beerholt (Kai Ivo Baulitz) und seine Schwiegermutter Bianca Kling (Corinna Harfouch), eine Richterin, und prompt veranlasst Beerholt, dass nach Mehlhorns Ermordung in Richtung Mafia ermittelt wird. Als größter Gegenspieler Blocks entpuppt sich allerdings ein Mann, der seine Taten gern wie Unfälle oder Suizide aussehen lässt; und erneut ist es Simon, der ihr das Leben rettet, als sie mit Pillen abgefüllt und mit geöffneter Pulsader in der Wanne liegt. Der Killer, Raven Morlock, trägt nicht nur einen typischen Filmnamen, er personifiziert auch das abgrundtief Böse; für Sabin Tambrea eine weitere Gelegenheit, seinen Ruf als Lord Voldemort des deutschen TV-Krimis zu bestätigen. Dazu passt, dass Morlock mehrfach wie aus dem Nichts in unmittelbarer Nähe der Kommissarin auftaucht; in einer Infrarot-Einstellung wirkt er endgültig wie ein Gespenst seiner selbst. Schon bei der ersten zufälligen Begegnung der beiden haben Regisseur Rainer Kaufmann und sein Kameramann Klaus Eichhammer für eindeutige Verhältnisse gesorgt: Aus der Draufsicht gefilmt wirkt Morlock fast doppelt so groß wie die ehemalige Kommissarin. Er ist nicht nur Beerholts Mann fürs Grobe. Seine zweite Einnahmequelle ist eine Bande verwahrloster Kinder, die regelrecht abgerichtet werden: die einen für raffinierte Einbrüche, die anderen zu kleinen Kampfmaschinen. Der schockierend brutale Morlock hat nur eine Schwäche, und das ist seine Schwester Tabea (Lilith Stangenberg), der er regelmäßig Gesangsauftritte in einem Stripclub verschafft; die Ballade, die sie dort zum Besten gibt, fällt derart aus dem Rahmen, dass die Szene wie eine Hommage an David Lynch anmutet.