Die ersten Bilder versprechen einen klassischen Horrorfilm. Ein Spukhaus, eine sich wie von Geisterhand bewegende Schaukel, dazu allerlei mystische Devotionalien, und das alles untermalt von passender Thrillermusik: Regisseurin Christiane Balthasar, ihr langjähriger Kameramann Hannes Hubach und Komponist Johannes Kobilke ziehen zu Beginn alle Register des Genres. Der Auftakt ist jedoch eine clevere Finte, denn „Das vergessene Dorf“ ist kein Horrorfilm, auch wenn die Geschichte lange danach aussieht. Nach dem effektvollen Einstieg geht die Handlung ohnehin erst mal ganz normal weiter.
Die Berliner Tageszeitungsjournalistin Cora Stein (Susan Hoecke) freut sich auf zwei Wochen Urlaub mit ihrer besten Freundin (Caroline Frier), aber dann spielt ihr der Zufall eine fremde Festplatte voller Videos in die Hände. Die Aufnahmen zeigen unter anderem sie selbst, allerdings aus einer Wohnung im Haus gegenüber gefilmt. Neugierig geht sie der Sache nach und kommt gerade noch rechtzeitig, um die Urheberin der Filme zu retten: Maren (Luise von Finckh) liegt mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrer Badewanne. Cora sagt den Urlaub ab, denn natürlich will sie wissen, warum die junge Frau sie gefilmt hat (was nicht beantwortet wird) und was die Ursache für ihren Freitodversuch war. Es stellt sich heraus, dass Maren eine Kollegin ist, die Material für ihre erste große Reportage gesammelt hat. Da sie ein Videotagebuch geführt hat, kann Cora die Recherche rekonstruieren und stößt schließlich auf ein zum Flüchtlingsheim umfunktioniertes Gut in der brandenburgischen Provinz. Dort hat sich Maren mit Joy (Karen Changu Zimana) aus Benin angefreundet. Die Frauen sind Seelenverwandte, beide haben ihre Familie verloren. Die Afrikanerin hat vor irgendetwas große Angst; als Maren ihr helfen wollte, ist sie anscheinend verhext worden.
Neben Balthasar, die fast alle Folgen der vorzüglichen ZDF-Reihe „Kommissarin Heller“ inszeniert hat, ist auch Nils Willbrandt ein Qualitätsgarant; zu seinen besten Arbeiten als Autor und Regisseur gehört der ARD-Vierteiler „Mörderisches Tal – Pregau“ (2016). Seine Geschichte ist eine raffinierte Gratwanderung zwischen Mystery-Film, Thriller, Krimi, Drama. Weil die Afrikaner ihre Voodoo-Religion mitgebracht haben, wimmelt es in den Bildern nur so von entsprechenden Symbolen, wobei Cora nie genau weiß, wie sie die Zeichen deuten soll; angeblich dienen sie einem Schutzzauber, andererseits muten sie unheimlich und bedrohlich an. Zwischendurch taucht wie aus dem Nichts immer wieder ein Voodoo-Priester auf, der mit seinem weiß geschminkten Gesicht und dem Zylinder wie eine Ikone des Bösen wirkt.
Der dramaturgische Reiz des Films liegt jedoch in der geschickt montierten Parallelerzählung, weil Marens Ebene dank ihrer Aufnahmen sowie ergänzender Rückblenden immer mehr Raum einnimmt. Willbrandt erzählt die gleiche Geschichte gewissermaßen doppelt, weil Cora dank Marens Aufnahmen exakt den gleichen Rechercheweg einschlägt wie zwei Wochen zuvor die junge Kollegin. Als Erstes kommt sie zu einem leerstehenden Kaufhaus, das dem Pfarrer als Lager dient, und empfindet dort die gleichen Beklemmungen wie Maren, als sie zwischen eine Horde unbekleideter Schaufensterpuppen gerät; auf diese Weise konnte sich Balthasar Hubachs faszinierendes Licht gleich zweimal zunutze machen. Die Montage verstärkt den Eindruck, dass beide Frauen sogar auf dieselben Geräusche reagieren. In der Tiefgarage des Gebäudes stößt Cora auf einen Brandfleck; angeblich ist dort ein Obdachloser Opfer eines Anschlags geworden. Maren hatte hier kurz vor ihrem Suizidversuch ein Erlebnis, das sie völlig aus der Bahn geworfen hat.
Ein weiterer Reiz liegt in der Verpackung, und das nicht nur wegen der ausgezeichneten Bildgestaltung, auch wenn Balthasar und Hubach immer wieder sehenswerte Akzente setzen, wenn sie beispielsweise die sonnige Frühlingsatmosphäre mit düsteren Voodoo-Bildern kontrastieren. Besonders kunstvoll ist auch eine der letzten Einstellungen, als Hubach den Schlusspunkt des dramatischen Finales als Schattenriss zeigt. Über weite Strecken sieht „Das vergessene Dorf“ wie ein Horrorfilm aus; dank passender Toneffekte, die für kleine Schockmomente sorgen, klingt der Film auch so. In Wirklichkeit erzählt Willbrandt jedoch eine klassische Krimigeschichte, allerdings mit einer Journalistin als Ermittlerin: Cora findet raus, dass sich zwei ziemlich unangenehme Typen Serienvergewaltiger sind; aber das erklärt nicht, warum Maren auf ihren letzten Videos wie eine Tote auf Urlaub wirkt.
Es ist ohnehin recht mutig von Willbrandt und Balthasar, so lange wie möglich offen zu lassen, was denn die eigentliche Geschichte ist; auch das trägt natürlich dazu bei, den Film in der Schwebe zu halten. Cora hat für Aberglauben nicht viel übrig, aber als sie in ihrem eigenen Umfeld Voodoo-Symbole entdeckt, fragt sie sich doch, ob an den schwarzmagischen Andeutungen eines etwas skurrilen Archivars (Heiko Pinkowski) was dran ist. Susan Hoecke, sonst zumeist in Komödien („Sechs Richtige und ich“, Sat.1) oder romantischen Dramen wie zuletzt der „Inga Lindström“-Episode „Ausgerechnet Söderholm“ (ZDF) besetzt, erweist sich als gute Wahl für die Hauptfigur. In ihren romantischen Rollen wirkt sie mitunter etwas zu verbissen, aber hier passt das gut. Dass muss es auch: Journalistin Cora ist als Reihenfigur angelegt. Ob tatsächlich noch weitere Filme folgen werden, hängt jedoch davon ab, wie gut „Das vergessene Dorf“ bei den Zuschauern ankommt. (Text-Stand: 21.9.2019)