„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Als der deutsche Schriftsteller Jean Paul vor rund zweihundert Jahren diesen gleichermaßen schönen wie im Grunde traurigen Aphorismus geprägt hat, gab es mutmaßlich noch keine Türklingel. Jedenfalls reagiert Wilhelm Schürmann entsprechend unleidlich, als ihn ein Paketbote aus seinem Tagtraum reißt, in dem er als junger Mann und frisch verliebt mit Hedi, der Liebe seines Lebens, durch eine idyllische Alpenlandschaft tollt. Das ist lange her. Heute gibt es für den Witwer aus Wuppertal keinerlei Grund mehr, sich auf den bevorstehenden Geburtstag zu freuen, denn sein Geburtstag war auch der gemeinsame Hochzeitstag; aber mit Hedi ist der Sinn seines Lebens gestorben. Erst kriegt der Bote sein Fett weg, anschließend stopft er das Paket in den Müll, und dann verlassen ihn die Kräfte, weil er sich standhaft weigert, die Medikamente gegen seinen Bluthochdruck zu nehmen. Als Tochter Bettina (Katja Studt) beschließt, den beratungsresistenten Vater zu sich zu nehmen, reicht es ihm.
„Opa hat die Schnauze voll“ lautete der Arbeitstitel dieses Films. Das ist vielleicht etwas derb, trifft aber voll ins Schwarze, denn Jürgen Prochnow verkörpert Wilhelm, als wolle er den Wettbewerb „Deutschland sucht den Supergrantler“ gewinnen. Die um fragwürdige Freitagsfilmtitel nur selten verlegene ARD-Tochter Degeto („Mein Schwiegervater, der Stinkstiefel“, „Der Kotzbrocken“) hat sich jedoch für „Der Alte und die Nervensäge“ entschieden. Mit der zweiten Titelfigur wird vermutlich nicht jeder Zuschauer einen 16jährigen männlichen Teenager assoziieren, aber als Duo sind die beiden durchaus interessant, zumal sich der junge Marinus Hohmann sehr beachtlich neben dem alten Haudegen schlägt. Das ungleiche Gespann kommt zusammen, als Wilhelm aus dem Krankenhaus türmt und Felix sein Taxi entert. Der Junge ist ebenfalls auf der Flucht: Die Eltern sind geschieden, er soll das Wochenende mit seinem Vater verbringen, aber der interessiert sich überhaupt nicht für ihn. Wilhelm, im Grunde seines Herzens ein verträglicher Mensch, lässt sich darauf ein, Felix ein Stück mitzunehmen. Anlässlich der bevorstehenden Goldenen Hochzeit holt er seinen uralten und zum Campingmobil umgebauten Ford Transit aus der Garage, um in die bayerischen Alpen zu fahren; dorthin, wo er und Hedi sich einst kennengelernt und wo sie jeden Hochzeitstag verbracht haben.
Damit ist die Geschichte bei ihrem Kern und der Film in seinem Genre angelangt: „Der Alte und die Nervensäge“ ist ein Roadmovie, in dessen Verlauf die beiden Hauptfiguren nach einigen gegenseitigen Beschimpfungen („Verzogene Kröte!“ – „Deine Kinder können einem leid tun!“) widerwillig Freundschaft schließen, wobei der Widerwille vor allem von Wilhelm ausgeht; er ist es auch, der im Verlauf der Handlung eine gewisse Läuterung erlebt. Geschickt sorgt Autorin Nadine Schweigardt in ihrem ersten verfilmten Drehbuch zudem dafür, dass sich endlich auch sein Sohn mit ihm versöhnen kann: Martin (David Rott) fühlte sich stets vom Vater vernachlässigt. Dass er nun bereit ist, Wilhelm hinterherzufahren, liegt weniger an der Sorge um den Alten, sondern in erster Linie an Felix’ Mutter (Karolina Lodyga); auf diese Weise lässt sich das Roadmovie um eine Romanze erweitern. Da Bettina Ärger mit ihrem Mann Torben (Christian Erdmann) bekommt, weil sie ihn nicht darüber informiert hat, dass sie ihren Vater in Torbens Hobbyraum unterbringen will, deckt der Film jedes Beziehungsstadium ab: den Beginn, die Krise und die Einsamkeit, wenn einer allein zurückbleibt.
„Der Alte und die Nervensäge“ ist der erste Langfilm von Regisseurin Uljana Havemann, und dass die Degeto mit diesem Projekt gleich zwei Debütantinnen eine Chance gegeben hat, ist aller Ehren wert. Schweigardt hat für das Drehbuch 2017 den Degeto-Nachwuchspreis „Impuls“ bekommen, und auch Havemann zahlt das Vertrauen zurück, denn ihr Roadmovie ist eine kurzweilige und gut gespielte Tragikomödie, die allerlei Haken schlägt: Als erstes landen die Ausreißer mitten in einer Balkanhochzeit, die einem Volksfest gleicht. Dem Brautvater (Albert Kitzl) ist der Sprit ausgegangen, und Wilhelm lässt sich erweichen, ihn, die Tochter und eine der Brautjungfern zur Kirche zu bringen. Dann macht er sich allerdings umgehend aus dem Staub, um kurz drauf überrascht festzustellen, dass es ohne den plappernden Felix viel zu still im Auto ist. Später geraten die beiden noch in eine auf wundersame Weise glimpflich ausgehende Kontrolle, weil Wilhelm den Jungen, der angeblich einen Führerschein besitzt, ans Steuer gelassen hat. Bei der Flucht vor der Polizei hat ein Stoßdämpfer Schaden genommen, aber erneut ist ein rettender Engel (Lara Joy Körner) zur Stelle.
Gerade in dieser Konfrontation Wilhelms mit Menschen, die ihn durch ihr freundliches Wesen all’ seiner misanthropischen Waffen berauben, liegt der eigentliche Zauber des Films. Die unterschwellige Botschaft mag naiv wirken – wenn man nur lange genug nett zu einem Miesepeter ist, wird der schon irgendwann auftauen –, doch sie ist natürlich sympathisch und verleiht der Geschichte fast schon märchenhafte Züge. Ein weiterer Merksatz ist „Weglaufen ist auch keine Lösung“, und es ist ausgerechnet Wilhelm, der ihn zu Felix sagt. Der Junge kontert später mit der Belehrung, dass sich auch ein Eigenbrötler wie der von ihm hartnäckig „Willi“ genannte alte Mann mal helfen lassen muss. „Alt“ ist übrigens relativ: Prochnow wird nächstes Jahr achtzig, aber anzusehen ist ihm das nicht. Abgerundet wird der treffend besetzte Film durch einige schöne Landschaftsbilder (Kamera: Mathias Prause), schließlich geht die Fahrt erst den Rhein entlang und dann ins Berchtesgadener Land, und unterlegt sind sie mit einer Musik (Dirk Leupolz), die perfekt den verschiedenen Stimmungen entspricht. Auch die Songauswahl ist mit ihren Oldies aus der Frühzeit von Wilhelms Liebesglück gut auf die Hauptfigur abgestimmt. Sehenswert ist „Der Alte und die Nervensäge“ ohnehin schon allein wegen Prochnow, der natürlich weiß: Für Heiterkeit sorgen in solchen Komödien die Umstände und allenfalls einige Nebenrollen, aber nie die Hauptfigur, weshalb er sein Spiel wie einst Robert Mitchum gern auch mal auf grimmiges Schweigen reduziert.