Auf einer Nordseeinsel verschwindet die kleine Anna.Tags darauf wird ihre Leiche im Bett des Dorftrottels Brandstetter (Pinkowski) gefunden. Alles klar für Inselpolizist Ströver (Mehmet). Nicht aber für die Kommissare vom Festland, Lubosch (Hanno Koffler) und Steinhilb (Walter Kreye). Die befragen die Eltern der Kleinen, Sibylle (Anna Schudt) und Werner Kampe (Gersak), sowie Annas Schwester Laura (Pieske). Und dann ist da noch Sibylles Schwester Judith (Anna Maria Mühe), die mit dem selben Schiff wie die Ermittler auf die Insel kommt, um ihre leibliche Tochter Laura, die sie seinerzeit überfordert bei Sibylle zurückgelassen hat, zu besuchen. Judith spürt, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt. Laura erzählt Judith, dass Anna oft „Medizin“ nehmen musste – und zeigt ihr Antidepressiva in Sybilles Nachttisch. Entspringt das der Fantasie einer Sechsjährigen, oder ist etwas dran? Judith konfrontiert ihre Schwester mit dem Verdacht. Lubosch wird derweilen klar, dass Brandstetter nicht der Täter sein kann. Der ist anscheinend geflohen und wird von Ströver gejagt.
Der Dorfdepp, dem ein Verbrechen in die Schuhe geschoben wird, wird gerne genommen, wenn Krimiautoren nach falschen Fährten suchen. Originell ist dies nicht. Doch wenn man den ganzen Fall betrachtet, wird in „Engel unter Wasser“ ein Schuh draus. Hier ist ein Täter, der alle und alles zu manipulieren versucht. Und da passt die Figur des debilen Verdächtigen aus dramaturgischen Überlegungen gut ins Bild. Vieles ist lange mysteriös und geheimnisvoll in diesem leisen Thriller um ein totes Mädchen, eine verlorene Familie und ein dunkles Geheimnis. Die Autoren Jörg von Schlebrügge und Roderick Warich haben mit Lubosch eine tiefgründige Ermittlerfigur geschaffen. Behutsam und überlegt agiert er – ob im Gespräch, im Verhör oder privat. Er verbirgt etwas, doch das wird nur angedeutet. Hanno Koffler spielt diesen Kommissar mit sparsamen Gesten, wortkarg, aber ist dabei von einer überzeugenden Präsenz. Um ihn herum sind markante Figuren platziert, vortrefflich besetzt mit Maxim Mehmet, Anna Schudt, Walter Kreye oder dem zunehmend TV-präsenter werdenden Sascha Alexander Gersak. Im Zentrum der Familiengeschichte steht Anna Maria Mühe als Judith. Sie ist mal sich vorsichtig in die Mutterrolle tastende Frau, mal eine Art zusätzliche Ermittlerin – verletzlich, beschützend und auch zielstrebig. Eine intensive Rolle mit vielen Facetten.
Regisseur Michael Schneider, der neben dem Krimi „Die Tote ohne Alibi“ (2011) bisher eher Reihenformate wie „Kommissar Stolberg“, „Die Chefin“ oder „Wilsberg“ inszeniert hat, lässt die Kamera (Andreas Zickgraf) übers Wasser gleiten, nutzt die Weite, die Einsamkeit, die Insel, das Meer, spielt mit weiten, einsamen Stränden, heimeligen Häusern & verschlossenen Charakteren, setzt auf Atmosphäre und Emotionen. Er zeigt den Kosmos der Nordseeinsel und darin den Mikrokosmos einer Familie. Vieles bleibt unausgesprochen, aber es wird durch Bilder und Gesten entschlüsselt. Auch wenn das Finale durchaus absehbar ist (spätestens dann, wenn Co-Ermittler Steinhilb auf dem Handy das erste Foto seines Enkelkindes erhält), die Geschichte hält dennoch die Spannung. Am Ende ist ein Fall gelöst, der Täter gefasst, aber die Probleme und die seelischen Wunden bleiben… Kein spektakulärer Krimi, aber einer, der soghaft und atmosphärisch ist, mit düster-spröder Stimmung spielt, auf ein gutes Ensemble mit einem fabelhaften Hanno Koffler vertrauen kann und eine komplexe und sehr emotionale Familientragödie erzählt. Thrill zwischen Ebbe und Flut. (Text-Stand: 5.9.2015)