Bieder und bürgerlich geht es zu bei Familie Lotzmann. Um 18 Uhr gibt es Abendbrot, dann setzt man sich vor den Fernseher: Regionalnachrichten und Wetterbericht. Und das seit nun schon 40 Jahren. Doch an diesem Tag ist alles anders. Annemarie (Gisela Schneeberger) wird 70. Doch der frühverrentete Gatte Hubert (Jörg Gudzuhn) vergisst den Geburtstag, weil er mit einer Unterschriftenaktion zur Rettung des Hallenbads beschäftigt ist. Und auch die autonome Tochter Bille (Eva Löbau) denkt nicht daran, demonstriert derweilen gegen die Eröffnung eines Elektrodiscounters. Annemarie reicht es. Kurzerhand drückt sie Hubert den Staubsauger in die Hand. Der schaltet den antiquierten Fuzzbuster 500 nur widerwillig ein und saugt dann aus Versehen Annemaries geliebten Wellensittich ein. Der Sauger gibt mit einem lauten Knall den Geist auf und fortan versucht Hubert, den Schaden in Grenzen zu halten. Seine Frau feiert mit ihren Schwestern (Sigrid Schnegelsiepen-Sengül und Gudrun Ritter) und stellt ihm ein Ultimatum: Bis zum Abendessen ist der Sauger wieder flott und der Wellensittich gerettet. Der panische Hubert macht sich auf den Weg in den Elektromarkt. Dort steht die feierliche Eröffnung bevor, zu der sogar die Firmenchefin (Gayle Tufts) aus den USA angereist ist.
2009 wurde Sönke Andresen beim Internationalen Filmfest Emden-Norderney mit dem Drehbuchpreis für die Vorlage ausgezeichnet. 2016 wurde „Familie Lotzmann auf den Barrikaden“ nach langem Hin und her verfilmt. 2018 kommt die Komödie jetzt endlich ins Fernsehen. Regie führt der Mann, mit dem der Autor auch schon Filme wie „Ich fühl mich Disco“ und die beiden „Tatort“-Krimis „Babbeldasch“ und „Waldlust“ gemacht hat: Axel Ranisch. Der zeigt hier, dass – im Gegensatz zu den nicht sonderlich gelungenen Impro-Krimis aus der ARD-Vorzeige-Reihe – im Komödienbereich sein Talent für Schräges und Skurriles weit besser aufgehoben ist. Dabei hat Ranisch, Ikone der „No-Script-Generation“, die aufs Improvisieren setzt, diesmal sogar sein Prinzip aufgegeben, oder besser gesagt für einen Film unterbrochen. Denn der Filmspaß ist Ranischs erster Film mit festem Drehbuch.
Impro-Filmemacher Axel Ranisch über Sönke Andresens Drehbuch:
„Für mich ist Sönkes Drehbuch ein Kunstwerk. Ich finde es atemberaubend, wie er mit 14 Figuren gleichzeitig jongliert, ohne sie in auch nur einer einzigen Pointe zu verraten, und dabei die Familiengeschichte nie aus den Augen verliert. Sein Drehbuch ist urkomisch, es trifft den Zeitgeist und steuert in einem wahnsinnigen 86-minütigen Crescendo der Katastrophe entgegen; dabei bleiben seine Figuren warmherzig, glaubhaft und liebevoll. Ich bin ja dafür bekannt, meine Geschichten selbst zu entwickeln und meine Filme lieber ohne festes Drehbuch zu drehen, mit den Mitteln der Improvisation. Als ich aber Sönkes Buch das erste Mal gelesen habe, wusste ich, dass ich hier – und nur hier – eine Ausnahme machen würde.“
Der Film zeigt wie präzise und gut getimt Ranisch auch mit einer festen Vorlage arbeiten kann. Andresens Drehbuch ist eine klassische Geschichte: In einer wohl geordneten und getakteten Spießerfamilie läuft das Leben für einen Tag völlig aus dem Ruder. Ein Ereignis setzt einen Dominoeffekt in Gang, plötzlich passieren Dinge, die so noch nie vorher geschehen und nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen sind. Eine prima Grundlage für eine Komödie, die sich in der zweiten Hälfte stets kurz vor dem Kurzschluss befindet und die Ranisch wild, schräg und enorm temporeich inszeniert hat. Es macht Spaß mit anzusehen, wie der Regisseur einen ungebremsten Mut zum Nonsens zeigt, seine Schauspieler von der Leine lässt, dennoch aber in den knapp neunzig Minuten sehr klug die Schraube immer weiter dreht und dabei die Fäden sicher in der Hand behält. Wie Andresen, so liebt auch er den Klamauk, spielt mit Klischees und beweist, dass er ein erstklassiger Unterhaltungskünstler mit einem originellen Blick ist. Da surft Lotzmann auf einem Staubsauger durch die Stadt, fliegt ein Elektromarkt unter antikapitalistischen Parolen in die Luft, gibt ein 40 Jahre alter Staubsauger Romantik-Motiv und Bombenersatz, stürmt ein Einsatzkommando die Wohnung der Lotzmanns.
Der Schlüssel zum Erfolg ist das kunterbunt zusammengestellte Ensemble: Jörg Gudrun als Papa Lotzmann, der mittendrin ins Chaos steuert, Eva Löbau als naive Kämpferin für eine bessere und gerechtere Welt und die hinreißende Gisela Schneeberger als Mama Lotzmann, tragen die Geschichte. Und drumherum hat Axel Ranisch mit der Casterin Nina Haun eine Typenparade platziert, die ihresgleichen sucht: die pensionierte Opernsängerin Sigrid Schnegelsiepen-Sengül und so herrlich verhärmt-böse spielende Gudrun Ritter als Annemaries Schwestern, Mišel Matičević und Sabin Tambrea in kleinen Rollen, Radischs treue Weggefährten Heiko Pinkowski als Polizist und Peter Trabner sowie die quirlige Entertainerin Gayle Tufts als geschäftstüchtige US-Unternehmerin. Für sie wurde die Rolle der Elektromarkt-Inhaberin extra auf eine Frau umgeschrieben. „Gayle Tufts haben wir die Rolle auf den Leib geschrieben“, sagt Ranisch, „als ich zum Projekt stieß, gab es noch einen „Mr.“ McAndrew. Aber als Regisseur hat man einen Reflex, sich beim Lesen des Drehbuchs sofort die passenden Schauspieler vorzustellen. Und die Erste und Einzige, woran ich bei dieser Rolle dachte, war Gayle Tufts. Die Zusammenarbeit mit ihr war absolut fantastisch. Keine Sekunde war zu merken, dass sie das erste Mal für einen Film vor der Kamera stand.“ Dass der Regisseur ganz Hitchcock-like am Ende des Films dann auch noch in einem Kurzauftritt als Reporter zu sehen ist, ist ein weiteres kleines, feines Ausrufezeichen.
Wild und schräg, rasant und skurril ist diese Komödie über vergessene Geburtstage, eingefahrene Ehen, einen eingesaugten Wellensittich, einen legendären Staubsauger, drei grantelnde Schwestern und miese Arbeitsbedingungen und rabiate Methoden in Elektromarktketten. Wohl zu wild und schräg, zu rasant und skurril für die Prime Time. Denn im Ersten läuft der Film bei der Erstausstrahlung nicht am gewohnten Freitags-Termin um 20:15 Uhr, wo sonst Degeto-Film meist gezeigt werden, sondern am späten Dienstagabend um 22:45 Uhr. Was soll’s: Spaß macht dieser Film zu jeder Uhrzeit.