Viele Menschen haben ein Geheimnis, das sie, wenn überhaupt, nur mit wenigen Vertrauten teilen. Wenn es sich um ein düsteres Ereignis handelt, sind diese dunklen Seiten meist eine Bürde. Wer um sie weiß, kann daran arbeiten. Manchmal tragen Menschen jedoch eine Last, von deren Existenz sie keine Ahnung haben, weil sich die entsprechenden Vorfälle womöglich noch vor ihrer Geburt ereignet haben; sie werden von einem Gewicht erdrückt, das sie nicht abschütteln können. Das ist das Thema dieser vortrefflichen zwanzigsten „Helen Dorn“-Episode; und betroffen ist ausgerechnet die stets so unerschütterlich wirkende Titelheldin.
Friedemann Fromm, der mit „Der deutsche Sizilianer“ und meist nach eigenem Drehbuch seinen sechsten Film in Folge für die ZDF-Krimireihe gedreht hat, beginnt die Geschichte jedoch völlig anders. Ein älterer Mann und seine Tochter geraten nach einer Rundfahrt durchs Alte Land in einen Überfall auf eine Tankstelle vor den Toren Hamburgs, machen allerdings kurzen Prozess mit den Angreifern, die sich für ihr Verbrechen eindeutig den falschen Tag ausgesucht haben: Beide werden von der Tochter, die sich als Personenschützerin ihres Vaters entpuppt, erschossen. Gerade die Tötung des zweiten Mannes wirkt auf LKA-Kommissarin Dorn (Anna Loos) bei der Rekonstruktion des Tathergangs allerdings wie eine Hinrichtung. Videoaufnahmen gibt es nicht, das Überwachungssystem ist ausgerechnet heute defekt.
Für ein erkennungsdienstliches Verfahren gibt es laut Dorns Chef (Stipe Erceg) keinen Anlass, schließlich haben sich Antonio Vizzante (Peter Benedict) und seine Tochter Luisa (Liane Forestieri) aus Palermo nichts zuschulden kommen lassen. Mit einem Trick beschafft sich Dorn trotzdem die Fingerabdrücke des Sizilianers, und tatsächlich gibt es einen Treffer: Der Mann hieß einst Ole Jacobsen, stammt aus dem Alten Land und ist 1965 als Teenager spurlos verschwunden, nachdem seine Eltern bei einem Brand auf ihrem Hof gestorben sind. Vizzante gilt als ehrenwerter Geschäftsmann, er ist ein wichtiger Handelspartner der Obstbauern in der Umgebung, aber es gab immer wieder den Verdacht, sein Unternehmen sei bloß Fassade für einen schwunghaften Drogenhandel; nachzuweisen war ihm das jedoch nie. Für Dorns Vorgesetzten ist der Fall damit erledigt, doch die Kommissarin ahnt: Hier stimmt was nicht; erst recht, als sie rausfindet, dass sich Vizzantes Tochter wenige Tage vor dem Überfall offenbar mit den Räubern getroffen hat. Der Überfall wäre dann bloß eine Inszenierung.
Soundtrack:Nancy Sinatra („Bang Bang“), Neil Diamond („Juliet”), Guns’n’Roses („Welcome To The Jungle”), Jane Birkin & Serge Gainsbourg („Je t’aime … moi non plus”), Sigur Rós („Dauðalogn”)
Schon dieser Teil der Geschichte ist fesselnd, aber zu einem besonderen Krimi wird „Der deutsche Sizilianer“, als Dorn entdeckt, dass der Fall sie ganz persönlich betrifft: Vater Richard (Ernst Stötzner), ehedem ebenfalls Polizist, kannte Vizzante. Der Italiener ist in seine alte Heimat zurückgekehrt, um mit der Vergangenheit abzuschließen und sich auf dem einstigen Hof seiner Eltern zur Ruhe zu setzen: „Ohne Land bist du kein Mensch, sondern ein streunender Hund“, belehrt er seine Tochter. Den heutigen Besitzern hat er ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnten. Als Dorn den grundsätzlich nicht gerade gesprächigen Richard zur Rede stellt, sucht er sein Heil erst in Ausflüchten und macht sich dann tatsächlich aus dem Staub. Spätestens jetzt ahnt die Kommissarin, dass ihr Vater und die verstorbene Mutter ein Geheimnis gehütet haben, das auch auf ihren Schultern lastet.
Schon allein die stetig zunehmende Komplexität der zudem durch Rückblenden angereicherten Geschichte, die sich vom Krimi zum zweifachen Familiendrama und schließlich zu einer klassischen Tragödie wandelt, ist faszinierend; das Bild der streunenden Hunde gilt für alle vier zentralen Figuren. Trotzdem gibt es einige heitere Momente, die vor allem deshalb witzig sind, weil Helen Dorn doch eigentlich durch und durch humorlos ist. Das Zusammenspiel von Anna Loos und Tristan Seith als Kriminaltechniker Weyer ist ohnehin ein zuverlässiger Quell kleiner Freuden, erst recht, seit der Spurensucher hoffnungslos in die Kollegin Isabella Alighieri (Nagmeh Alaei) verliebt ist und entsprechend eifersüchtig reagiert, als sich die Rechtsmedizinerin anscheinend auf ein Techtelmechtel mit Luisa Vizzante einlässt. Neben der Bildgestaltung (Heinz Wehsling) und der Musik (Ina Meredi Arakelian) beeindruckt „Der deutsche Sizilianer“ nicht zuletzt durch die prägnante Besetzung selbst der kleinsten Nebenrollen; auf diese Weise hinterlässt zum Beispiel Emmy Pilawa in den Rückblenden als Vizzantes Jugendliebe einen bleibenden Eindruck.