Nur wenige Minuten und man ist mittendrin in diesem Psycho-Thriller, dem es von der ersten Sekunde an gelingt, Spannung aufzubauen und diese zu halten. Man sieht eine Frau auf einer Brücke stehen, verzweifelt, verängstigt, verstört. Dann hört man aus dem Off: „Es gibt einen Moment, in dem alle Hoffnung vergeht, aller Stolz schwindet, alle Erwartungen, aller Glaube, alles Sehnen. Das ist der Moment, in dem eine Seele zerbricht. Es ist kein lautes Knacken wie von splitternden Knochen, auch nicht weich wie ein gebrochenes Herz, es ist ein Klang, bei dem man sich fragt, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen kann. Es ist ein Ton, so hoch…“ Schauplatzwechsel: Man sieht den Hamburger Psychiater Joe Jessen in seiner Vorlesung und hört ihn den Satz beenden: „… dass nur die Hunde der Hölle ihn hören können“.
Kurz darauf wird „Joe“ Jessen (Ulrich Noethen) aus der Vorlesung geholt, um die Frau auf der Brücke, die ein Handy am Ohr hat und ferngesteuert wirkt, von ihrer Tat abzuhalten. Er kann sie nicht retten, sie springt von der Brücke. Jenny Winter (Alva Schäfer), die Tochter der Toten, glaubt nicht an den Selbstmord ihrer Mutter Carina. Ihm Gegensatz zu Kommissarin „Ronnie“ Nielsen (Michaela Rosen) sieht Joe das genauso, zumal ihm das Mädchen erklärt hat, dass ihre Mutter Höhenangst hatte und niemals auf eine Brücke klettern würde. Gemeinsam mit Kommissar Vincent Ruiz (Juergen Maurer) und dessen Kollegin (Marie Leuenberger) nimmt sich Joe, den seine Krankheit weiter im Griff hat, des Falls an. Eine erste heiße Spur führt zu einem ehemaligen Afghanistan-Soldaten, der unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Der Verdacht gegen ihn erhärtet sich nicht, dafür gerät später ein ehemaliger Kamerad von ihm (Ronald Zehrfeld) in den Fokus der Ermittlungen. Zuvor aber gibt es eine weitere Tote. Carina Winters beste Freundin Silvia Fuchs (Tanja Schleiff) wird auf einer Schnellstraße von einem Auto erfasst. Auch sie hat Sekunden vor ihrem Tod noch telefoniert. Joe und Ruiz untersuchen das Umfeld der Frauen. Beide gehörten zu einem Bund von vier Schulfreundinnen. Was ist mit den anderen beiden? Joe Jessen wird bald klar, dass hier ein Experte für Menschenmanipulation am Werk sein muss und ahnt noch nicht, dass er selbst bereits in das Visier des Mörders geraten ist.
„Neben der Spur – Dein Wille geschehe“ ist die vierte Verfilmung eines Romans des australischen Bestsellerautors Michael Robotham. Wie schon bei der Folge „Todeskampf“ hat Mathias Klaschka das Buch bearbeitet und in einigen Teilen stark verändert. So ist beispielsweise die Selbsttötung der zweiten Frau im Roman komplett anders beschrieben. Die Story ist gut durchdacht, ausgefeilt und hat allein schon Sogwirkung. Was man zu Beginn nur erahnen kann, wird bald Gewissheit: Manipulation bis zum Selbstmord durch Einflößen von Angst, das ist die Methode des sadistischen Täters. Und ein Werkzeug ist dazu geeignet, die vollkommene Kontrolle über einen Anderen zu erlangen: Die Sorge um ein Kind. Es ist ein perfider Täter, der durch seine militärische Ausbildung um psychologische Verhörmethoden weiß und sie auch im Privaten anwendet, um seine Umgebung zu tyrannisieren. Mit den richtigen Mitteln, zeigt Robotham, ist jeder Mensch manipulierbar. Seelenheiler Joe versucht einem Seelenbrecher auf die Spur zu kommen – was für ein packendes Duell, das eigentlich keines ist. Denn den Gegner sieht man nicht, man hört ihn nicht einmal, auch am Telefon, wenn er die Frauen lenkt, bleibt dessen Stimme dem Zuschauer versagt. Erst zum Ende hin bekommt der Seelenbrecher ein (überraschendes) Gesicht und erweist sich nicht als unberechenbares Monster, sondern als Mensch, der auch eine Gefühlswelt und eine Seele hat.
Anno Saul, der im vergangenen Jahr den „München Mord“-Krimi „Wo bist du Feigling?“ (ZDF) und außerdem zahlreiche Folgen von „Der Kommissar und das Meer“ (ZDF) inszeniert hat, versucht sich mit Erfolg wieder an einem Reihenformat. „Neben der Spur – Dein Wille geschehe“ ist ein hoch emotionaler, fesselnder Psychothriller. Dem Regisseur gelingt es, von Beginn an eine beeindruckende Spannung aufzubauen. Es sind die vielen kleinen Details, die es zu erkennen lohnt. Joe lebt mit den Einschränkungen einer unheilbaren Krankheit, aber die sieht man nur im Kleinen – beispielsweise wenn seine Hand zittert beim Autofahren. Wie die Hauptfigur von Albträumen geplagt wird, sich dann in den Fall hineinkniet, der ihm scheinbar über den Kopf wächst und tief in sein privates Leben eindringt, hat Saul eindrucksvoll in Szene gesetzt. Ein kühler, atmosphärischer Look, fließende Kamerafahrten, wirkungsvolle Locations, ein präzises Sounddesign und viel hanseatische Nacht hat dieser Thriller zu bieten. Die Extremlagen der Opfer – die Frau auf der Brücke, die Frau an der Straße, eine dritte Frau später in schwindelnder Höhe – versetzen auch den Zuschauer in Ausnahmesituationen.
Man erfährt viel über die menschliche Psychologie – weil Joe Jessen den Zuschauer teilhaben lässt, wie er versucht die Gedankengänge des Täters nachzuvollziehen, um ihn zu identifizieren. Es geht aber auch um den Umgang mit den Grenzen der eigenen Belastbarkeit. Joe ist krank, und seine Ehe befindet sich in keinem guten Zustand. Seine Frau ist beruflich erfolgreich und viel unterwegs, er zweifelt an der ehelichen Treue und sieht in ihrem Auftraggeber Dirk einen gefährlichen Nebenbuhler. Wie er bei einem Essen diesen vor versammelter Runde zur Rede stellt und beleidigt, ist nicht nur höchst unterhaltsam, sondern es zeigt auch viel von seiner Verzweiflung und betont den Eigensinn der Figur. Auch hier hat er einen Gegner, nur ist der besser zu greifen. Ulrich Noethens Spiel zwischen Beruf, Eheleben und Krankheit ist vielschichtig. Und das Zusammenspiel mit Juergen Maurer bleibt eine höchst spannende Kombination. Wenn man sich etwas wünschen könnte, wäre es noch mehr Interaktion zwischen diesen beiden konträren Charakteren. Da steckt noch ein größeres Potential für diese Reihe. Ein weiterer Film ist bereits in Arbeit. (Text-Stand: 18.1.2017)