Als Duisburg 1981 „Tatort“-Schauplatz wurde, war die Freude in der Stadt am Rande des Ruhrgebiets groß; bis dahin hatte allein der damals noch in der Bundesliga vertretene MSV für überregionale Bekanntheit gesorgt. Die Filme reduzierten Duisburg allerdings oft auf seine weniger attraktiven Seiten, und genauso beginnt „Zorn“. Ein düsterer Himmel, stillgelegte Zechen, kaputte Häuser, klaffende Löcher in der Straße: Dortmund eine Geisterstadt. Die Bilder sind fast schwarzweiß, das verstärkt den trostlosen Eindruck noch; so kaputt beginnen die Sonntagskrimis im „Ersten“ selten. Der „Tatort“ aus Dortmund ist ohnehin kein Wohlfühl-TV, dafür sorgen schon die Spannungen zwischen den Ermittlern, aber „Zorn“ ist womöglich noch ungefälliger als sonst. Im Dezember 2018 ist mit Prosper-Haniel in Bottrop das letzte Steinkohlebergwerk im Ruhrgebiet geschlossen worden, und Jürgen Werner, Schöpfer des Dortmunder Ensembles, erzählt die passende Geschichte dazu. Ein großer Teil des Films spielt in einer Zechensiedlung, die doppelt betroffen ist: Die Menschen haben nicht nur keine Arbeit mehr, auch ihre Eigenheime sind bedroht, denn wegen diverser Schächte unter den Straßen droht akute Einsturzgefahr. Die Einheimischen können sich nicht einigen, ob sie das Angebot des Zechenbetreibers annehmen sollen, jeden Hausbesitzer pauschal mit 20.000 Euro zu entschädigen, oder ob sie für eine höhere Summe kämpfen sollen. Mitten in die aggressive Stimmung platzt die Nachricht, dass der Wortführer des Widerstands erschossen worden ist.
Das Thema passt perfekt zu Dortmund und verleiht dem Film schon deshalb eine gewisse Relevanz; meist haben die „Tatort“-Stoffe ja keinen derart konkreten regionalen Bezug. Werner hat sein Drehbuch darüber hinaus um Aspekte angereichert, die ebenfalls interessant sind. So führen die Ermittlungen Faber (Jörg Hartmann) unter anderem zu einem ebenso verschrobenen wie gefährlichen „Reichsbürger“ (Götz Schubert), der einen eigenen Staat im Staate ausgerufen hat und bereit ist, die Grenzen seines Territoriums mit Waffengewalt zu verteidigen; auch dafür gibt es Vorbilder aus der Wirklichkeit. Weil der Mann aber gleichzeitig als Informant arbeitet, kommt Faber einer Verfassungsschützerin (Bibiana Beglau) in die Quere. Derweil gehen die jungen Teammitglieder Dalay und Pawlak (Aylin Tezel, Rick Okon) der Frage nach, ob der tote ehemalige Bergmann womöglich das Opfer eines Eifersuchts-Dramas geworden ist. Ein bisschen kurz kommt diesmal Bönisch (Anna Schudt), die Vierte im Bunde. Beim letzten Fall, „Tod und Spiele“, war die Hauptkommissarin als Geliebte eines Mordverdächtigen noch die Hauptfigur, diesmal beschränkt sich ihr Mitwirken weitgehend auf einen schmerzenden Rücken und heilsame Besuche bei einem Therapeuten, der die Spannungen aus ihren Chakren nimmt; mit der eigentlichen Handlung hat dieser Nebenstrang nichts zu tun, aber dank Richard van Weyden entwickelt er einen ganz eigenen Reiz.
Für die Szenen mit Aylin Tezel und Rick Okon gilt das nicht, im Gegenteil; auf dieser Ebene ist der Film ein Rückfall in die Anfangszeit, als Dalay und Pawlaks Vorgänger Kossik erst eine Beziehung eingingen und dann die Krise kriegten. Daran scheint Werner, der die Drehbücher zwischendurch anderen Autoren überlassen hatte, nun anknüpfen zu wollen; allerdings nur an die Krise. Zunächst reagiert Dalay auf den neuen Kollegen, der seit „Tod und Spiele“ festes Teammitglied ist, sehr unterkühlt; später verpetzt sie ihn, weil Pawlak gern pünktlich Feierabend macht. Tiefpunkt ist die Befragung eines betrunkenen Freunds des Toten. Pawlak hält Stefan Kropp (Andreas Döhler) für den Mörder, denn das Opfer hatte eine Affäre mit Kropps Frau, wovon der Gatte aber noch gar nichts wusste. Der Mann rastet völlig aus, und Dalay klatscht dem Kollegen höhnisch Beifall. Dieser Moment ist völlig unglaubwürdig, zumal Tezel die Oberkommissarin nicht nur hier wie einen hormonell überforderten Teenager verkörpert. Später geht Pawlak der Kollegin buchstäblich an den Kragen, was Faber trocken kommentiert: „Was sich liebt, das neckt sich“; den Fehler wird Werner hoffentlich nicht ein zweites Mal begehen, auch wenn Pawlaks familiäre Verhältnisse undurchschaubar bleiben. Am Ende will Dalay im Alleingang einen Sprengstoffanschlag auf ein Stahlwerk verhindern, bekommt im Angesicht des Todes jedoch eine Panikattacke. Im Buch las sich das bestimmt packend, und Aylin Tezel hat ihr Talent schon oft bewiesen, aber die Spannung verpufft, weil ihr heftiges Atmen wie eine Hechelübung aus der Schwangerschaftsgymnastik klingt.
Die Szenen mit Tezel fallen auch deshalb aus dem Rahmen, weil Andreas Herzog die beiden „erwachsenen“ Ensemble-Mitglieder in seinem zweiten Dortmunder „Tatort“ nach „Eine andere Welt“ (2013) ganz sparsam agieren lässt. Gerade Hartmann, der Faber schon oft als Grenzgänger verkörpert hat, beschränkt sich diesmal auf mimische Feinheiten. Hier kurz den Kopf schief gelegt, dort ein Lächeln angedeutet: Das ist angesichts des sonstigen Geschreis gerade unter den ehemaligen Bergleuten ähnlich wohltuend wie Anna Schudt, deren Spiel sich des Öfteren allein auf einen Blick beschränkt. Auch Götz Schubert kommt ohne große Poltereien aus, obwohl der „Reichsbürger“ ähnlich viel Zorn in sich trägt wie die Menschen aus der Zechensiedlung. Selbst dem Heilpraktiker genügt ein kleines Heben der Augenbraue, um Esoterikskeptikerin Bönisch daran zu hindern, das Weite zu suchen. Umso plakativer wirkt das Spiel von Bibiana Beglau, die die Verfassungsschützerin im Vergleich zu den sonst meist düsteren Rollen der Schauspielerin mit demonstrativ guter Laune versieht. Die Figur profitiert davon jedoch, denn Klarissa Gallwitz treibt ein Spiel mit Faber. Am Ende, als ihre Pläne zu scheitern drohen, beschimpft sie ihn mit dem Satz „Halt die Fresse, du dämliches Arschloch!“; das wirkt dann prompt übertrieben. Dass solche Details nicht weiter ins Gewicht fallen, hat nicht zuletzt mit der Komplexität der Handlung zu tun; kaum zu glauben, dass Werner auch für ein dünnes Geschichtchen wie den „Bozen-Krimi – Leichte Beute“ verantwortlich ist. Er sorgt zudem dafür, dass Fabers Trauma präsent bleibt: Der Mörder seiner Familie ist nach der Flucht aus dem Gefängnis („Tollwut“, 2018, ebenfalls von Werner) immer noch auf freiem Fuß; deshalb kann Gallwitz dem Kommissar einen Deal anbieten, den er kaum ablehnen kann.
Regisseur Herzog (zuletzt „Unzertrennlich nach Verona“) ist ohnehin ein Garant für sehenswerte Krimis. Der frühere Cutter hat neben einigen guten Beiträgen für „Unter Verdacht“ (allen voran der Terror-Zweiteiler „Verlorene Sicherheit“, 2017) auch die beiden leider nicht fortgesetzten „Metzger“-Krimis gedreht. Bei „Zorn“ war wichtig, dass die Milieuszenen gut gelingen. Vermutlich hat sich seit Schimanskis Duisburger Zeiten kein „Tatort“-Kommissar mehr derart glaubwürdig unters Volk gemischt wie Faber. Hartmann ist zwar kein Kohlenpottkind, aber im nahen Herdecke aufgewachsen; bestellt er sich ein „lecker Pils“, gern auch im Dienst, wenn’s der Wahrheitsfindung dient, klingt das authentisch. Ähnlich sympathisch ist das neue Verhältnis zwischen Faber und Bönisch. Die beiden haben schon in „Tod und Spiele“ einen anderen Umgangston miteinander gepflegt und bereichern den Film um kleine komödiantische Elemente, die überhaupt nicht deplatziert wirken; dabei hat Herzogs bevorzugter Kameramann Wolfgang Aichholzer viele Außenaufnahmen mit einem Grauschleier überzogen, als würden in Dortmund immer noch die Stahlwerkschlote qualmen.