Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist für Judith (Lisa Maria Potthoff) und Niclas Koch (Maximilian Brückner) auch aus persönlichen Gründen ein Schock: Denn eine junge Frau aus der Ukraine soll das Kind austragen, das Judith selbst nicht bekommen kann. „Ich habe Angst, dass es wieder nicht klappt“, sagt die Müchenerin, die gemeinsam mit ihrem Mann ein Versicherungsbüro betreibt. Ist es ethisch vertretbar, eine Leihmutter bei einer ausländischen Agentur zu „kaufen“? Noch dazu in einem weniger wohlhabenden Land, in dem Frauen womöglich aus purer Not ihren Körper „verkaufen“? Solch nachvollziehbare Bedenken sind durchaus eine Hypothek für das Drama „Mein Kind“, denn die wichtigsten Protagonisten sind somit keine ungebrochen sympathischen Identifikationsfiguren. Daran kann auch die Besetzung mit dem populären Schauspiel-Duo Potthoff/Brückner nichts ändern. Gleichzeitig ist das erzählerische Potenzial durch die immensen persönlichen Konflikte, in die der Krieg die fiktiven Figuren stürzt, groß. Und am Ende türmt sich ein Berg offener Fragen auf, denn tatsächlich war die Ukraine vor dem Krieg „globales Zentrum für Leihmutterschaften“, wie der „Spiegel“ im März 2022 schrieb. Das Nachrichtenmagazin berichtete über Babys, die im Bunker einer Leihmutterschaftsklinik darauf warteten, abgeholt zu werden – eine reale Situation, die sich im Film wiederfindet.
Foto: ZDF / Alexander Fischerkoesen
Vorerst aber nehmen Judith und Niclas per Videotelefonat Kontakt mit der Agentur in Kiew auf, deren Chefin Liudmyla Portnova (Liudmyla Vasylieva) schließlich die Handynummer der Leihmutter herausrückt. Als erstes zerstört der Krieg also die Anonymität zwischen zukünftigen Eltern und Leihmutter. Die Kochs erreichen die schwangere Oksana Smirnova (Alin Danko) in einer Metrostation, wo sie vor den Bomben Schutz sucht. Das kurze Gespräch kann das besorgte Paar aus dem fernen Deutschland nicht beruhigen, auch wenn die Information, dass Oksana in Butscha lebt, vorerst nur für das Publikum von Bedeutung ist. Der Vorort von Kiew erlangte traurige Berümtheit, weil dort nach dem Abzug der russischen Besatzer mehr als 400 getötete Zivilisten gefunden worden waren. Insofern nimmt man es im Film mit Erleichterung auf, dass Oksana ihre Meinung schnell ändert. Während sie beim Telefonat mit Judith und Niclas die Einladung, nach München zu kommen, ausschlägt, steht sie wenig später mit ihrer Tochter Nadja (Mariia Kasianenko) doch vor der Tür der Kochs. Nun beginnt die stärkste Passage des Films: Wie sich die Leiheltern um Oksana und nicht nur aus Sorge um das ungeborene Kind bemühen, wie die Leihmutter hin und her gerissen ist zwischen der sicheren Zuflucht Deutschland und dem Verlust der Heimat, das wird in der ruhigen, bedachten Regie von Christine Hartmann überzeugend erzählt.
Allerdings nimmt der Druck von außen weiter zu: Die Agentur verlangt die Rückkehr Oksanas und droht mit einer Vertragsstrafe. Da Leihmutterschaften in Deutschland verboten seien, müsse Oksana das Kind in der Ukraine zur Welt bringen. In Deutschland dagegen wäre sie auch die gesetzliche Mutter, und Judith und Niclas müssten das Kind adoptieren. Autorin Katrin Bühlig legt mit Sorgfalt und ohne plumpe Parteinahme die Konflikte in dieser dramatischen Situation offen. Ihr Drehbuch bemüht sich insbesondere um differenzierte Mütter-Bilder, indem zwei Nebenfiguren das Spektrum ergänzen: Judiths Mutter Heidi (Suzanne von Borsody) hat kein übermäßig herzliches Verhältnis zur Tochter, gewinnt aber als „Leih-Oma“ für Oksanas an Heimweh leidender Tochter Nadja an Format. Und Judiths unglücklich verheiratete Schwester Nele (Karolina Horster), Mutter von zwei Kindern, steht nach einem One-Night-Stand vor der Entscheidung: „Entweder ich bekomme das Kind oder ich behalte meine Familie.“
Foto: ZDF / Alexander Fischerkoesen
Die 1996 in Kiew geborene Alina Danko, die am Mozarteum Salzburg ausgebildet wurde und zuletzt am Hamburger Ernst Deutsch Theater auf der Bühne stand, feiert hier ein überzeugendes Filmdebüt als selbstbewusste Leihmutter, die sich ihre Eigenständigkeit bewahrt. „Ich bin kein Opfer“, betont Oksana nachdrücklich und steht zu ihrer Entscheidung, das Kind für Julia und Niclaus auszutragen. Sie bekommt dafür 16.000 Euro und nennt es „ein gutes Geschäft“. Gleichzeitig ist Oksana eine impulsive Frau, die um ihren Freund Micha (Alexandr Koval) und ihre Familie im Krieg bangt. Und die spontan beschließt, zurückzukehren, als sie vom Massaker in Butscha erfährt. Der Krieg ist durch Nachrichtenbilder präsent. Und als auch Judith und Niclas aufbrechen, um ihr Kind abzuholen, wird aus dem Familiendrama in München ein spannender, in Kroatien gedrehter Roadtrip ins Kriegsgebiet. Allerdings wäre es angebracht gewesen, Oksana und ihrer (bis auf Micha) unsichtbaren Familie in der Ukraine mehr Raum zu geben. So bleibt die Figur doch stark auf ihre Funktion als Leihmutter beschränkt.
Einen tieferen Einblick in Lebensumstände und innere Konflikte gewährt der Film der kinderlosen Judith, der nach Fehlgeburten und gescheiterten künstlichen Befruchtungen keine andere Option mehr bleibt. „Für Menschen wie uns ist es die einzige Möglichkeit“, sagt sie zur Rechtfertigung. Lisa Maria Potthoff spielt die zweite weibliche Hauptfigur ohne Züge von Wehleidig- oder Rücksichtslosigkeit, aber an der Erfüllung ihres Traums hält sie hartnäckig fest – auch im Streit mit ihrem Mann, den die steigenden Kosten beunruhigen. Über das Finale sei nur soviel verraten: Dass ein solches Drama, das sich nahe an der Wirklichkeit orientiert, nicht in eitel Sonnenschein enden kann, sollte klar sein.