Besonders nah waren sich die Schwestern noch nie, jetzt ist es der Glauben, der die beiden auseinandertreibt. Helene (Lisa Martinek), eine überzeugte Atheistin, findet es unerträglich, wie die strenge Katholikin Martha (Zeljka Preksavec) ihre Tochter Maja (Alisa Nagel) mit heiligen Zeremonien zu indoktrinieren versuche. Nach einem Streit bricht Helene endgültig mit ihrer Schwester. Doch einen Tag später ist alles vergessen. Helene hat als einzige einen Autounfall ihrer kleinen Familie überlebt. Sie kann sich an nichts erinnern, weder an Maja noch an ihren Mann Theo (Tim Bergmann), und kann folglich auch nicht trauern. Bei Martha keimt dagegen Hoffnung auf, dass der Unfall einen Neuanfang für die Beziehung der Schwestern bedeuten könnte. Doch erst einmal muss sie Theos Mutter (Beatrice Richter) hinhalten, denn diese will so schnell wie möglich nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihre Enkelin einäschern und in einem Friedwald bestatten lassen. Für Ordensschwester Martha hingegen ist für ihre Nichte nur eine christliche Beerdigung auf geweihtem Boden denkbar. Entscheiden aber muss letztlich Helene – sobald sie sich erinnern kann. Nach dem Klinikaufenthalt zieht sie zu Martha ins Kloster. Wird die Schwester Barmherzigkeit zeigen oder kommt sie in die Versuchung, Helenes Situation auszunutzen, um so das erste Mal im Leben über die eigenwillige, unangepasste Schwester die Oberhand zu gewinnen?
„Schwester Weiß“, der zweite Langfilm von Dennis Todorovic („Sascha“), ist mehr Versuchsanordnung über den Glauben und die Liebe, über Vor-Urteile und Vertrauen als ein ernstes Charakterdrama, das sich um Realismus und Psychologie bemüht. Nicht die tiefe Tragik des Unfalls, sondern das tragikomische Paradox einer retrograden Amnesie bestimmt das erste Drittel der Handlung. Der Tod der Familie und das Sich-nicht-erinnern-können ist eine dramaturgische Setzung, um das Verhältnis der Schwestern auf den Kopf zu stellen, um ihrer Interaktion neue Impulse und am Ende eine unerwartete moralische Wendung zu geben. Die Verunglückte fühlt sich nicht unwohl mit dem Gedanken, noch mal ganz von vorne beginnen zu können: Denn so eine Wiedergeburt kann doch irgendwie auch ganz sexy sein. Diese wilde „Flexibilität“ kann die Gottesfrau nicht verstehen, sie setzt auf Lebenserfahrung und die Kraft der Identität: „Dein ganzes Leben ist doch alles, was dich ausmacht“.
Foto: SWR
Man muss sich einsehen und einhören in diesen Film, der aber längst nicht so schwer(gewichtig) ist, wie man den Standfotos und der Inhaltsbeschreibung zufolge annehmen könnte. Das Szenenbild ist spartanisch, die gesamte Bildsprache karg, der Dialekt gewöhnungsbedürftig. Auch wenn das Schwäbische etwas Bedächtiges und Betuliches der Erzählung mitgibt, so unterstützt es doch maßgeblich das erzählte Milieu, bindet es zu einem stimmigen Ganzen, wozu die Bild-Ästhetik – im Gegensatz zu den Nonnen- und Kloster-Dramen-Klassikern der Filmgeschichte (z.B. von Rivette) – nicht in der Lage ist. Fast die Hälfte des Films spielt in dem Kloster der Ordensschwestern. Das Spiel mit Hell und Dunkel, mit Farbe und gefühltem Schwarzweiß sorgt zwar immer wieder für visuelle Abwechslung, ein klarer, gar magischer Stil erwächst der kleinen SWR-Produktion der „Debüt-im-Dritten“-Reihe aus der Bildgestaltung allerdings nicht. Dialoge sind das Herzstück des Films – und diese sind (bis auf das eine oder andere dekorative Sprüchle zu viel) recht geschliffen, wirken aber nie artifiziell, was wohl mit am bodenständigen, leicht ironisierten Spiel der Hauptdarsteller Lisa Martinek und Zeljka Preksavec liegt. Beide wechseln immer wieder bruchlos zwischen ernst und komisch (vielleicht hätte ihr Spiel eine Spur unpsychologischer sein können, dann hätten allerdings auch die Dialoge weniger volksnah sein müssen).
„Schwester Weiß“ lädt zu Interpretationen ein. Ein durchgängiges Motiv ist die fehlende Trauer der beiden Schwestern. Das lässt die pflichtbewusste Katholikin zwischenzeitlich an ihrem Glauben zweifeln. Bald zweifelt sie auch das Große und Ganze an, die christliche Tradition: Weshalb weint Maria nicht um ihren gekreuzigten Sohn? Und weshalb bringt auch sie keine Träne zustande? Sie wird es nachholen… Auch das Spiel mit der Farbe Weiß lädt zu cineastisch-ikonografischen Assoziationen und inhaltlichen Konnotationen ein: Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt ist das Gedächtnis der einen Schwester, Weiß ist für die andere die Farbe von Heiligkeit und Erlösung. Weiß könnte aber auch eine Anspielung an Krzysztof Kieslowskis Film „Farbe Weiß“ sein, der auch weitgehend als Komödie konzipiert war. Oder zumindest eine Reminiszenz an den großen polnischen Regisseur sein, in dessen Spätwerk Religion eine zentrale Rolle einnahm und dessen Filme stets mehr moralische Entwürfe als Charakterdramen waren. Und der Schnee auf der Landschaft ist quasi das ästhetische i-Tüpfelchen auf diesem Film, der sich zu „erarbeiten“ lohnt. (Text-Stand: 5.11.2017)