Ein Notar-Termin verschlägt Dr. Moritz Neiss (Patrick Kalupa) in ein Dorf in der Nähe von Flensburg. Der Mann von Welt musste vor einigen Monaten erfahren, dass er eine Tochter hat, Lea (Maj Borchardt), 16 Jahre alt. Grund für die Offenbarung: die Krankheit ihrer Mutter, mit der Neiss einst einen One-Night-Stand hatte. Mittlerweile ist sie gestorben. Gekommen ist er nur, um die Sorgerechtserklärung zu unterschreiben. Denn Charlie Jansen (Josefine Preuß), die Lebenspartnerin der Verstorbenen, möchte das Mädchen adoptieren. Für den Arzt und die Krankenschwester eine Win-Win-Situation. Dumm nur, dass die Adoptionsunterlagen verlegt wurden. Ein paar Tage muss Neiss also noch ausharren. Und so bleibt Zeit für einen Flirt mit Hotelbesitzerin Janne (Brigitte Zeh) und eine Ruderfreundschaft mit Hartmut Peddersen (Bruno F. Apitz), dem er eine ungute Diagnose stellen muss. Auch mit seiner spröden Tochter kommt es zu einer zaghaften Annäherung: Das Vertrauen zu ihm wächst, als er Leas Freund Kai (Philip Günsch) das Leben rettet. Dabei frischt er die Intimfeindschaft mit seinem Studienkollegen, Florian Schmidtke (Maximilian Grill), wieder auf. Der ist heute Chefarzt des Förde-Krankenhauses, hat aber noch immer mit einem Unterlegenheitsgefühl Neiss gegenüber zu kämpfen. Seinem Ego kommt zupass, dass der Star-Chirurg, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Wiederherstellung, nach einem Unfall mit einer unbeweglichen Hand selbst Patient geworden ist. Deshalb steht auch Sydney und nicht Flensburg auf seinem Terminkalender.
Die Sternenvergabe im Detail:
„Hand aufs Herz“ hat sich 4,5 Sterne verdient. Die zweite Episode „Alte Wunden“ bringt es auf vier Sterne.
Ein Arzt, der selbst einen Arzt braucht, der auf eine Wunderheilung am Ende der Welt hofft und der sich bestens auskennt mit starken Antidepressiva, das ist schon beträchtlich weit entfernt vom Mythos des „Halbgotts in Weiß“, wie er wohl immer noch durch die Wunschträume vieler Fernsehzuschauer geistert, obwohl er in seiner 50er-Jahre-Urform schon länger nicht mehr im Fernsehen aufgetreten ist (bereits in der „Schwarzwaldklinik“ gab es etliche Weißkittel-Ausrutscher). Einen wie diesen titelgebenden „Dr. Nice“ hat man allerdings tatsächlich noch nicht gesehen. Großspurig, selbstgefällig, arrogant, besserwisserisch. Letztes muss allerdings relativiert werden: Dr. Moritz Neiss weiß es tatsächlich fast immer besser. Auch mit seiner fehlenden Empathie und den anderen ihm – vor allem nachgesagten – Eigenschaften sieht es sogar schon im Verlauf der ersten Episode „Hand aufs Herz“ gar nicht mehr so wild aus. Am Ende der zweiten Episode „Alte Wunden“ lässt er sich sogar dazu hinreißen, seiner Tochter eine emotionale Video-Nachricht aufzunehmen: „Du bist genau die Tochter, die ich hätte haben wollen.“ Damit rührt er nicht nur diesen mitunter etwas nervig bockigen Teenager, sondern sicherlich auch einen Großteil der Zuschauer. Noch besser umzugehen weiß der coole Jetsetter mit dem geistig etwas zurückgebliebenen Sohn (Ben Ole Knobbe) der Hotelbesitzerin. Und die ihrerseits versteht es, diesem „Hoppla, jetzt komm’ ich“-Typen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sogar mit der befangenen Charlie und der Sprechstundenhilfe a.D. (Hedi Kriegeskotte) wird dieser Doktor mit Handicap langsam warm.
Es tut sich was auf dem ZDF-„Herzkino“-Sendeplatz am Sonntag. Die in die Jahre gekommenen Marken „Inga Lindström“ und „Rosamunde Pilcher“ werden heruntergefahren, stattdessen gibt es zeitgemäßere Geschichten in einem mehr oder weniger veränderten filmischen Look: Nach der ausgelaufenen „Ella Schön“-Reihe begaben sich durchschnittlich fünf Millionen Zuschauer an den „Tisch in der Provence“ (leider nicht fortgesetzt), bevor mit „Nächste Ausfahrt Glück“ eine recht charmante Dreiecksgeschichte mit Ost-West-Thematik mehrfach über den Sender ging. 2022 startete „Freunde sind mehr“, eine Reihe, in der Liebe die zweite Geige spielt, und 2023 gab es im März zwei erste Episoden von „Familie Anders“, in denen nicht nur eine Ehe auseinanderbricht, sondern auch alternative Lebensformen ausprobiert werden. „Dr. Nice“ nun setzt nur bedingt auf außergewöhnliche Themen, wie im zweiten Film, weibliche Beschneidung und eine mögliche Wiederherstellung der Vulva. Ansonsten die übliche Medical-Themenpalette: Krebs in seinen abartigsten Varianten (sogar in der Vorgeschichte), Unfall, Knochen- und Knieprobleme. Das „Ella Schön“-Autorenduo Simon X. Rost und Elke Rössler bricht zwar nicht mit den Konventionen des Ärzte-Genres, wandelt aber mit einem dichten, zukunftssicheren Setting und einer eigenwilligen Hauptfigur auf dramaturgisch etwas weniger ausgetretenen Pfaden. In der Figur Moritz Neiss spiegeln sich die Unwägbarkeiten des Lebens, woraus sich ein moderat ambivalenter Charakter ergibt. Und erfreulicherweise sind – und das wird hoffentlich auch so bleiben – die medizinischen Fälle nur das halbe Leben. Noch bewegt sich das Ganze im Rahmen der sonntäglichen ZDF-Vorgaben, erst recht, wenn man diesen „Dr. Nice“ mit dem britischen Dramedy-Dauerbrenner „Doc Martin“ vergleicht, den das ZDF bereits 2009 mit Axel Milberg für 14 Folgen adaptierte: Ironie versprühen bisher allein einige knackige Dialogwechsel, bei denen sich die beiden Erzrivalen nichts schenken; milder, aber alltagsnäher sind die charmanten Wort- und Augenspielchen zwischen Neiss und Hotelbesitzerin Janne (Brigitte Zeh überzeugte bereits 2022 in „Ein Sommer in der Bretagne“ in einer ähnlichen Rolle).
Es gibt Anzeichen für die Gemütsschwankungen dieses Arztes im Wartestand, dem der momentane Verlust seiner Reputation als Top-Chirurg verständlicherweise zu schaffen macht, doch dunkle Momente sind nicht deutlich erkennbar, rechtzeitig greift der Herr Doktor zu seinen kleinen Helfern. Allenfalls versagt er in solchen Situationen zwischenmenschlich, findet nicht die richtigen Worte, geschweige denn eine Geste des Trostes, und ergreift lieber schnellstens die Flucht. Man kann das Drehbuch-technisch clever nennen: Denn wer die manisch-depressiven Anflüge des „Helden“ sehen will, der nimmt sie wahr, wer auf solchen „Psychokram“ verzichten kann, der wird drüber hinwegsehen; schließlich gibt es genügend andere kleine Geschichten in den beiden ersten Filmen. Darüber hinaus besticht die Auftakt-Episode vor allem dadurch, dass es Autor Rost gelingt, in Windeseile einen stimmigen Mikrokosmos zu etablieren. Die Szenen wirken nie überladen und doch bekommt der Zuschauer stets viele Informationen gleichzeitig und beiläufig geliefert. So ist beispielsweise zum Auftakt der Helikopter-Flug keiner jener üblichen Drohnen-„Herzkino“-Anflüge an den Schauplatz, sondern er führt gleichsam in die Geschichte ein. Man bekommt einen ersten Eindruck vom lockeren, besserwisserischen Wesen der Titelfigur, hat das Panorama der Flensburger Förde im Blick, genauso wie einen der Schauplätze der Reihe, die Klinik, ja sogar der künftige Gegenspieler kommt ins Bild. Doch Genaueres weiß man noch nicht. Das fördert die Neugier. Und es geht ebenso zackig weiter. Über Gespräche wird die Vorgeschichte in die aktuelle Handlung integriert. Das ist keine Besonderheit, aber wie das passiert, das ist oft elegant, wirkt alltagsnah und sorgt häufig für Erheiterung. Ein Notar, der während seines Termins noch mal eben ein Regal aufbaut und in der Garage seines Vorgängers Akten durchgeht, solche Specials lassen den Ton dieser Reihe früh erkennen. Und dass sich Dr. Neiss nur das Wesentliche von Charlie aus der Nase ziehen lassen will und irgendwann deren Fragespielchen beendet, ist nicht minder aufschlussreich. Dramaturgisch gesehen ist „Hand aufs Herz“ also nahezu vorbildlich. Der Effekt (beim Kritiker): Spätestens zur Halbzeit ist ein Wohlfühl-Mikrokosmos geschaffen, wofür die meisten Reihen sehr viel länger brauchen.
Es wurde also mit viel Bedacht ausgesät. Bis das Reihen-Pflänzlein zu sprießen beginnt, dauert es jedoch. Und so ist denn „Alte Wunden“ eine typische Übergangsepisode, in der Autorin Rössler vor allem Konsolidierungsarbeit leisten muss. Der Entschluss, vorerst Flensburg gegen Sydney einzutauschen, wird wieder in Frage gestellt, was die überwunden geglaubten Konflikte zwischen Vater und Tochter wieder befeuert und was dazu führt, dass Neiss plötzlich sowohl Charlie als auch Janne vor den Kopf stößt. Denn so einfach ist das nicht, als Chirurg mal eben eine Landarztpraxis zu übernehmen. Diese retardierenden Momente in einer zweiten Episode gehören zum Standard von Unterhaltungsfilm-Reihen. Sie sind eine dramaturgische Konvention, aber sie entwerten auch ein Stück weit die Charaktere und Geschichten. Bei „Dr. Nice“ lässt sich diese Verzögerung allerdings nicht nur auf produktionstechnisch-kommerzielle Gründe reduzieren, sie hat auch mit der Psychologie der Hauptfigur zu tun: Dr. Moritz Neiss ist kein Psychologe, er merkt also offenbar nicht, dass er (unterbewusst) noch schwankt zwischen „vernünftig & gut“ (OP in Sydney) und „ungewohnt, aber vielleicht spannend & richtig“ (Flensburg). Ab Episode drei kann es dann hoffentlich so richtig ans Geschichtenerzählen gehen. Das ZDF vertraut der neuen „Herzkino“-Reihe und hat – ohne die Einschaltquoten abzuwarten – weitere Filme bestellt. (Text-Stand: 13.3.2023)